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"Ukraine droht im schlimmsten Fall Bürgerkrieg"

Von Gerhard Lechner

Europaarchiv

Ukrainischer Präsident "heillos überfordert". | "Breite Masse der Bevölkerung fühlt sich verraten." |
§§"Wiener Zeitung": Herr Razumovsky, der Streit ums Gas hat auch westlichen Beobachtern die lähmende politische Situation in der Ukraine vor Augen geführt. Von der so hoffnungsfroh bejubelten Orangen Revolution ist wenig geblieben. Was sind die Gründe dafür? * | Gregor Razumovsky: Für die Einwohner dieses Landes hat sich kaum etwas verbessert. Viele seinerzeitige Mitstreiter der Revolution, breite Massen der Bevölkerung, fühlen sich von Juschtschenko verraten und missbraucht.


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Der Gas-Konflikt ist ein gutes Beispiel für den Versuch des Präsidenten, von der innenpolitischen Misere abzulenken. Die Ukraine erpresst lieber den Westen durch das Abschneiden der Gasverbindung, als offenstehende Rechnungen zu bezahlen. Hier sollte wohl der westliche Anti-Russland-Reflex instrumentalisiert werden.

Ist der angesichts der Entwicklungen im heutigen Russland nicht auch irgendwie verständlich?

Schon, auch aufgrund der genannten Entwicklungen war die Orange Revolution ja für viele, auch für mich, ein Aufbruchsignal. Eine kurze Zeit lang sah es so aus, als könnte in der Ukraine wirklich eine Wende zu mehr demokratischer Offenheit stattfinden. Meine diesbezüglichen Träume waren wohl sehr naiv.

Warum?

Die Hauptpersonen im Intrigenspiel der ukrainischen Politik sind seit Jahren dieselben. Sowohl Wiktor Juschtschenko als auch Julia Timoschenko und Wiktor Janukowitsch waren bereits Minister unter Kutschma, haben im Sowjetsystem ihre Netzwerke geknüpft. Alle haben auch alte Rechnungen zu begleichen. Julia Timoschenko saß sogar im Gefängnis, weil sie sich sattsam am Gastransit bereichert hat. An ihrer Haftstrafe waren sowohl Juschtschenko als auch Janukowitsch nicht ganz unbeteiligt. Wer ukrainische Gefängnisse von innen gesehen hat, wird die persönlichen Animositäten zwischen diesen Politikern verstehen können.

Sie haben den Präsidenten persönlich erlebt. Ist ihm denn Kompetenz und ehrliches Wollen abzusprechen?

Juschtschenko ist ein ehrenwerter Mann, doch mit seinem Amt heillos überfordert. Timoschenko wiederum agiert bar jeden Konzepts. Sie steht für gar nichts. Ihr Konzept einer Wiederverstaatlichung privater Objekte mag populär sein, schafft aber keine Investitionssicherheit.

Die Spaltung des Landes beschränkt sich allerdings nicht auf seine Politiker und ihre Animositäten...

Leider nicht. Es gibt eine furchtbare nationalpolitische Mythenbildung, die unter der Oberfläche brodelt. Die ukrainische Normalität ist ja sehr fragil: Es herrscht eine tiefe Resignation über die Zustände in der Politik, die sich lieber mit Intrigen beschäftigt, als die ungeheuren Probleme des Landes zu lösen - die Kluft zwischen arm und reich, die derzeitige rasante Geldentwertung, die Sorgen der Leute, noch genug Geld für Nahrung und Heizung zu haben. Viele Junge, gut Ausgebildete wandern in andere Länder ab. Vor diesem Hintergrund wirkt die Politik Juschtschenkos, der lieber über den Hungertod der Ukrainer in den 30er Jahren spricht und damit gegen Russland Front zu machen versucht, geradezu bizarr. Bei dieser Polarisierung könnte es im schlimmsten Fall auch zu einem Szenario wie beim Zerfall Jugoslawiens kommen.

Eine dieser Fragen mit Konfliktpotenzial ist die nach einem möglichen Nato-Beitritt des Landes.

Ein Nato-Beitritt der Ukraine wäre tatsächlich eine fatale Entscheidung. Es leben Millionen Russen im Land, auch ein großer Teil der Ukrainer spricht russisch. Dazu gibt´s viele - ich mag den Begriff nicht - sogenannte Mischehen. Da ist eine Grenze einfach nicht zu ziehen. Wohl daher sprechen sich in Umfragen nur sehr wenig Ukrainer für einen Nato-Beitritt aus, zugleich um die 90 Prozent dagegen.

Wie kann die Ukraine angesichts dieser Zentrifugalkräfte dennoch als Staat überleben?

Überraschenderweise ist es Wiktor Janokowitsch, der das vernünftigste Konzept vorgestellt hat. Sein Modell einer föderalen Verfassung steht mit den soziohistorischen Bedingungen des Landes am ehesten im Einklang. International nimmt er eine eher neutrale Haltung ein. Juschtschenko hingegen hängt am ukrainischen Zentralstaat - also das, was zur Zeit existiert, doch nicht funktioniert. Timoschenko laviert je nach Opportunität. Ich halte Janukowitschs Konzept, zumindest in seiner schriftlichen Darstellung, für das vernünftigste.

Gregor Razumovsky, geboren 1965, war von 2005 bis 2008 persönlicher Berater des ukrainischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko. Von 2001 bis 2004 war er als Sonderkorrespondent der Generaldirektion "Erweiterung" der EU-Kommission in Wien tätig. Bereits 1991 demonstrierte er für eine souveräne Ukraine. Ein Vorfahre Razumovskys war der letzte Kosakenhetman der Ukraine. Heute ist Gregor Razumovsky Senior Partner in einer Consultingfirma.