Reiseeindrücke aus einem Land, das zwischen dem Westen und Russland zerrissen zu werden droht.
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Kiew/Wien. Als ich die Einladung zur Gastprofessur an die Taras-Shevshenko-Universität von Kiew erhielt, war die Euromaidan-Bewegung noch nicht gestartet. Der Lehraufenthalt sollte allerdings genau zu deren Höhepunkt stattfinden. Konnte man wirklich vom sicheren Wien aus nach den Februarereignissen 2014 nach Kiew reisen - in das unruhige Land zwischen den Fronten eines herauf dämmernden neuen "Kalten Kriegs"? Warum sollte man das tun und mit welchem Ziel? Ich sollte es nicht bereuen. Die Lektionen, die ich in fünf Wochen Ukraine im März und April gelernt habe, waren lehrreich.
Ja, Patriotismus wird zurzeit großgeschrieben, und wie! Darin besteht kein allzu großer Unterschied zu Österreich. In beiden Ländern wird die Zugehörigkeit zu Land und Leuten betont, insbesondere in Abgrenzung zu dem jeweiligen großen Nachbarn. Die Ukrainer haben allen Grund zum Patriotismus: Vier Monate Proteste und der Sturz des russlandfreundlichen Präsidenten Wiktor Janukowitsch waren eine solidaritätsstiftende Aktion, die Gefühle der Zusammengehörigkeit in intensivster Weise entstehen ließ und - leider - auch Gewalt-Eskalationen. Keiner meiner Studenten, der nicht auf die eine oder andere Weise in die Maidan-Ereignisse verwickelt war. Hauptmotiv für die jungen Leute: die Willkürherrschaft des Präsidenten und seine durch Korruption und ökonomischen Egoismus gekennzeichnete Politik. Eine 23-Jährige kümmerte sich tagelang um die Versorgung der Verwundeten. Und eine Jungjournalistin hat ihre politische Unschuld verloren, als ihr Kameramann auf dem Maidan angeschossen wurde. Sie, die vorher hauptsächlich an Mode Interessierte, engagiert sich jetzt für Politik. Für die meisten hat sich ihr Leben und die Definition von Lebenssinn grundlegend geändert. Die Bedrohung durch Russland und die Annexion der Krim tun ein Übriges. "Yes, we can", diese Erfahrung kann den Maidan-Bewegten niemand mehr nehmen: Ihre urdemokratische und anti-oligarchische Power setzte sich durch - auch wenn dabei ein gewählter Präsident gestürzt wurde, weil er den Mehrheitswillen massiv missachtete, und die Beteiligung des Rechten Sektors irritiert.
Und jetzt Ironie der Geschichte: Oligarch und Schokoladefabrikant Petro Poroschenko ist mit über 54 Prozent haushoher Sieger der Präsidentschaftswahlen vom 25. Mai. Der Vorsitzende des Rechten Sektors und gewaltbefürwortende Maidan-Kämpfer Dmytro Jarosch wurde mit 0,67 Prozent abgestraft. Und selbst Oleh Tjahnybok, Führer der nationalistisch-rechtspopulistischen Swoboda, kam gerade einmal auf 1,16 Prozent. Zur Erinnerung: Die Europa-Wahlen ergaben zur gleichen Zeit in Frankreich, England, Belgien und Österreich für rechtspopulistische beziehungsweise extremistische Parteien zweistellige Ergebnisse weit über 20 Prozent. Also, ein Rechtsextremismus-Problem hat die Ukraine weit weniger als Mittel- und Westeuropa. Die Wahl Poroschenkos ist aus der Sicht der Bewegung das kleinere Übel, da er sich beizeiten auf die Seite der Maidan-Aktivisten schlug. Gelöst sind die Probleme in der Ukraine damit freilich nicht. Julia Timoschenko (12,95 Prozent) hat in der Vergangenheit vorgeführt, wie sich Oligarchen an der Macht verhalten. Das Problem ist die mangelnde Trennung von Politik und Geschäft, wodurch sich die allseits beklagte Korruption zu einem kaum mehr kontrollierbaren Krebsgeschwür auswächst.
Der Vorwurf an Timoschenko lautet, dass sie (wie auch Janukowitsch) wechselnde Koalitionen mal mit, mal ohne russische Beteiligung bildete, aber immer zum eigenen Vorteil. Das Land wird ausgeplündert, auch deshalb ist es staatlicherseits so gut wie bankrott. Insofern erscheinen die Wahlergebnisse inkonsequent und die Aussichten der Ukraine nicht wirklich gut. Der Teufel lässt sich kaum mit dem Beelzebub austreiben, der bekanntlich ein Experte für süße Verführungen ist. Immerhin traten bei der Wahl auch Nicht-Oligarchen an. Mit Oleg Liashko (8 Prozent), Anatolii Grytsenko (5 Prozent) und Olga Bohomolets (2 Prozent) kamen sie auf immerhin 15 Prozent. Die beiden Letzteren sind zugleich Hoffnungsträger einer sich neu bildenden intellektuellen Elite. In der Entfaltung einer politischen Kultur jenseits von Nomenklatura und Big Money liegt die Chance für eine wahrhaft demokratische Zukunft der Ukraine.
Spaltpilz Russland
Russland ist der Stachel im ukrainischen Identitätsverständnis: Promoter und Spalter in einem. Kaum ein Gesprächspartner in Kiew ist gut auf Präsident Wladimir Putin zu sprechen. Auf dem Maidan kursieren Putin-Karikaturen mit Hitlerbärtchen. Auch Intellektuelle zeigen offen ihre tiefe Abneigung gegenüber dem Kremlchef. Und selbst russisch-stämmige Ukrainer in der Hauptstadt begründen ihre nationale Zugehörigkeit und Standortwahl damit, dass ihnen das Russland Putins weniger gefällt. In der Ostukraine ist das zum Teil anders: Die Nähe zur russischen Grenze, die wirtschaftliche Verflechtung mit Russland und die Unsicherheiten, die das politische Kiew ausstrahlt, lassen manche zwischen Kiew und Moskau schwanken.
Ob die Panzer und Hubschrauber in Donezk und Lugansk, die gegen die Separatisten eingesetzt werden, die Integration fördern, erscheint zweifelhaft. Ähnlich wie auf dem Maidan schädigen die Gewaltexzesse die "Soft Power", in diesem Fall die Anziehungskraft einer ungeteilten Ukraine. Die extreme Personalisierung des Konflikts nach dem Muster der Maidan-Bewegung (alle gegen einen) und die zunehmende Ethnisierung des Konflikts (Ukrainer gegen Russen) sind die gegenwärtig größten Hindernisse auf dem Weg aus der Krise. Die Geschichte spielt den Ukrainern hier gleich zweimal mit. Sie waren die Hauptbetroffenen der stalinistischen Kollektivierungs-, Vertreibungs- und Säuberungswellen (rund 15 Millionen Tote in den 1920ern und 1930ern). Die Ukrainer nennen das "Holodomor"
(= Tod durch Hunger) in Anlehnung an den Terminus "Holocaust". Diese historische Traumatisierung motiviert den anti-russischen Affekt, der zuweilen auch in Ethnonationalismus umschlägt. Hieraus erklärt sich auch die kurzzeitige Kollaboration von Teilen der Ukrainer mit der Hitler-Armee, die sie in der Außensicht mancher bis heute als faschismusverdächtig stigmatisiert.
Daher ist die ukrainische "Seele" nicht immer leicht nachzuvollziehen, zumal wenn der historische Referenzrahmen wechselt. Aus der Perspektive österreichischer und deutscher Geschichte erscheint angesichts der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus die ethnische Aufladung der nationalen Identität geradezu als Vorhof zur "Hölle", die durch Antisemitismus, Rassenwahn und extremen Nationalismus befeuert wird. Aus ukrainischer Sicht war der sowjetische Internationalismus (die Ethnie zählt nichts, der internationale Klassenkampf alles) die ideologische Basis für Vertreibung, Gulag und Massenmord - ein monströser Zivilisationsbruch, der sich (wie der Holocaust) niemals wiederholen soll. Daher die Empfindlichkeit gegenüber russischen Übergriffen heute. Die Russen deuten ihrerseits die anti-russische Polemik aus der Ukraine und die Unterstützung durch die Europäische Union als Bedrohung, die sie wahlweise mit dem Überfall durch das faschistische Hitler-Deutschland vergleichen oder mit den imperialen Ansprüchen des Westens zu Zeiten des Kalten Kriegs. Über diese Spaltung des europäischen Geschichtsbewusstseins führt derweil kein Brückenschlag hinweg. Und dennoch ist es eine Überlebensfrage nicht nur für die Ukraine.
Das importierte Problem
Immer wieder wurde mir in Kiew versichert: Wir haben kein ethnisches Problem mit unseren russisch-stämmigen Mitbürgern. Das Problem werde ausschließlich durch Putin importiert. Wenn dem nur so wäre! Zuweilen haben sich einzelne Studenten als russisch-stämmig offenbart, unsicher und zögerlich wie ein Homosexueller, der nach langem Versteckspiel das Outing wagt. Eine Lektorin gestand mir im Vertrauen, wie sehr sie sich als Russin in Kiew diskriminiert fühle. Ein Opfer der Putin’schen Propaganda? Am letzten Tag haben mich dann meine Studenten gefragt, was ich ihnen rate zu tun. Ich antwortete: Party feiern, demonstrativ gemeinsam mit den russischen Kommilitonen! Sie schienen vom Vorschlag ein wenig überrascht. Aber ukrainischer Patriotismus, der keine Selbstverstümmelung sein will, muss überethnisch angelegt werden und die 15 bis 20 Prozent Russen in der Ukraine einbeziehen - und sei es nur, um sie dem Zugriff Putins zu entziehen.
ZuM Autor
Der Kommunikationswissenschafter Jürgen Grimm lehrt seit 2003 am Publizistik-Institut der Universität Wien. Seine Arbeitsschwerpunkte sind politische Kommunikation, internationale Konflikte, Dynamik nationaler Identitätskonzepte, Geschichtsvermittlung durch Medien und Entertainment-Education im Rahmen der Gesundheitskommunikation.