Nur zwei Kandidaten haben bei den Präsidentenwahlen in der Ukraine Siegeschancen: der regierungstreue Apparatschik Wiktor Janukowitsch und der Oppositionelle Wiktor Juschtschenko. Vor der ersten Runde am Sonntag kämpft die Regierung mit allen Mitteln und wirft der Opposition jetzt sogar terroristische Absichten vor.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 19 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Das soll die Zentrale einer Terrorbewegung sein? Ein Kellerloch mit unverputzten Wänden, von denen rotes Ziegelmehl herunterbröckelt? Der Weg in die "Terrorzentrale" führt über einen mit Müll überhäuften Hinterhof, in dem sich stechender Geruch von Katzenurin mit Hausbrand vermischt. Die Blechtür krächzt. Drinnen arbeiten drei Studenten an vorsintflutlichen Computern. Der Älteste ist gerade zwanzig Jahre alt. Wie ein Terrorist sieht er nicht aus - eher wie ein ukrainischer John-Lennon-Verschnitt.
Und doch: Geht es nach der Meinung des SBU, des ukrainischen Geheimdienstes, ist Maxim wie alle anderen oppositionellen ukrainischen Studenten ein potentieller Bombenleger. Mit brutaler Härte geht der Geheimdienst wenige Tage vor der Präsidentenwahl gegen die Studentengruppen "Pora" und "Saubere Ukraine" vor, die den oppositionellen Präsidentschaftskandidaten Juschtschenko unterstützen.
Anonyme Drohanrufe, Durchsuchungen und Festnahmen stehen an der Tagesordnung. Letzte Woche wurde in der Kiewer Zentrale von "Pora" Sprengstoff gefunden. Für die regierungstreuen Medien war der Fall klar: Die Studenten planen einen gewaltsamen Umsturz. Die Opposition sprach hingegen von Provokation. "Sie verfolgen uns, weil wir für Juschtschenko sind", sagt Pora-Aktivist Maxim. "Und sie benutzen dabei asiatische Methoden. Die Ukraine gehört im Moment nur geografisch zu Europa."
So nah an Europa und doch so fern. Diesen Seufzer kann man in der Ukraine derzeit oft hören. Vor den Präsidentenwahlen am kommenden Sonntag führen ihn jene im Munde, die das Lager von Präsident Kutschma abwählen wollen. Mit Premier Wiktor Janukowitsch schickt Kutschma einen Nachfolger ins Rennen, der die Beibehaltung des Kurses garantieren soll: russlandorientiert in der Außenpolitik, dem Willen der Oligarchen aus dem Donezk-Becken hörig, wenn es um die Wirtschaft geht. Der oppositionelle Herausforderer Wiktor Juschtschenko und sein
Wahlblock "Unsere Ukraine" setzen hingegen auf Westorientierung und Europanähe. Meinungsforscher prophezeien ein Kopf-an-Kopf-Rennen in der ersten Runde und eine Stichwahl in zwei Wochen.
Im Griff mafioser Clans, denen jedes Mittel zum Machterhalt Recht ist, sieht die Opposition die Ukraine. "Sie werden auch vor Wahlfälschung nicht zurückschrecken", urteilt Maxim. Doch auch wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass das Regierungslager seine Macht notfalls mit Betrug verteidigen wird - bis zu einem bestimmten Grad kann Regierungskandidat Janukowitsch auch auf Erfolg aus eigener Kraft hoffen. Es sind die schlechter informierten, verarmten Landbewohner sowie der traditionell prorussische Osten, die ihn wählen wollen. Und auch jene, die sich als Opfer der Systemwende sehen.
Während Janukowitsch-Anhänger alten Zeiten nachtrauern, greifen die Oppositionsstudenten in ihrem Kampf inzwischen auch zu drastischen Mitteln: Letzte Woche haben sich in Kiew Pora-Aktivisten mit Eisenketten rund um die 38-Meter breite Säule am Platz der Unabhängigkeit gebunden. "Ich bin keine Terroristin", steht auf einem Schild, das sich ein Mädchen um den Hals gehängt hat. "Schluss mit dem Kutschmismus" fordern Plakate mit dem "Pora"-Logo. Pora bedeutet "höchste Zeit" - höchste Zeit für das Regierungslager um Kutschma abzutreten. Das ist auch der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die diversen Oppositionsgruppen einigen können.
In Lemberg, einer der Hochburgen der Opposition, demonstriert "Saubere Ukraine" fast täglich: gegen Polizeirepression, gegen die drohende völlige Schließung des einzigen noch freien Fernsehsenders Kanal 5 und gegen die Russifizierung der Ukraine. "Ukraine ist keine Bananenrepublik, Ukrainischsein ist kein Verbrechen", skandieren die Demonstranten immer wieder und schwenken blau-gelbe Nationalfahnen.
Dass Lemberg zur Hochburg der Opposition geworden ist, hat auch historische Ursachen. Der Westen, das galizische Land um Lemberg war seit jeher ein "ukrainisches Piemont", die Keimzelle des Nationalgedankens und Widerstands. Anders als in Charkow oder Kiew, wo man russische Popmusik hört, sowjetische Heldengeneräle aus dem Zweiten Weltkrieg verehrt und wie selbstverständlich russisch spricht, ist Lemberg strikt moskaufeindlich. Hier sprechen Ukrainer tatsächlich Ukrainisch und die Straßen sind nach ukrainischen Nationalisten benannt. In Lemberg behaupten auch viele kein Wort Russisch zu sprechen und radebrechen stattdessen mit Ausländern lieber in höchst rudimentärem Englisch, der Sprache des reichen, fernen Amerika.
Finanziell ausgehungert
Dass die Pora-Studenten von allen oppositionellen Gruppen am stärksten von Repressalien betroffen sind, hat vor allem einen Grund: Von der sowjetischen Vergangenheit unbelastet, trauen sie sich die formell existierende Demokratie auch zu leben. Das ist für die Ukraine immer noch neu. Anders als "Unsere Ukraine" von Juschtschenko haben "Pora" und "Saubere Ukraine" kaum mächtige Fürsprecher im Land. Während Juschtschenko immerhin von einem der ukrainischen Oligarchen, Petro Poroschenko, gepusht wird, bekommen die Studenten zwar etwas Geld von amerikanischen Think-Tanks, sind aber in der Ukraine selbst weitgehend auf sich selbst gestellt. "Was uns an Geld fehlt, müssen wir eben mit Idealismus ausgleichen", sagt daher Aktivistin Anna.
Allmählich macht auch Protest gegen die dramatische soziale Lage Schule. Und so versammeln sich Lehrerinnen, die seit sieben Jahren auf versprochene Lohnerhöhungen warten, vor dem Wahlstab des amtierenden Premiers Viktor Janukowitsch und wollen ihn zur Rede stellen. Als sie nicht vorgelassen werden, stürmt eine Gruppe von gut hundert Leuten die Empfangshalle. Erboste Frauen rütteln an den verschlossenen Türen der Wahlkampfmanager. "In Gottes Namen, gebt uns unser Geld" steht auf den Transparenten. "Wenn die Opposition nicht gewinnt, droht diesem Land eine Revolution. Denn Korruption haben wir schon lange, jetzt eskaliert aber auch noch die Armut", prophezeit eine aufgebrachte Mathematiklehrerin. Der Staat reagiert auf gewohnte Weise: Binnen weniger Minuten ist das Haus von der Miliz umstellt. Doch immerhin, und das mag als ein Zeichen durchgehen, dass sich in der Ukraine doch auch einiges zum Guten gewendet hat: Die Uniformierten drängen die protestierenden Lehrerinnen mit Worten und nicht mit Knüppeln aus dem Saal.