Zum Hauptinhalt springen

Ukraine schlittert ins Chaos

Von Michael Schmölzer

Politik

Neue Ausschreitungen, Geheimdienst will Terror-Organisationen "liquidieren".


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Kiew/Wien/Moskau. Der Rauch über dem Maidan hatte sich noch nicht verzogen, da gingen Polizei und Demonstranten wieder aufeinander los. Die Sicherheitskräfte setzten Wasserwerfer gegen etwa zweitausend Oppositionelle ein, die den Unabhängigkeitsplatz verbissen verteidigten. Die Regierungsgegner antworteten mit Steinen und Molotowcocktails.

Die verfeindeten Seiten kämpfen mittlerweile vor einer rußgeschwärzten Kulisse. Am Dienstag kam es zu dort massiven Zusammenstößen, Barrikaden gingen in Flammen auf, als die Polizei versuchte, den Maidan mit Gewalt zu räumen. Laut offiziellen Angaben sind dabei mindestens 26 Menschen ums Leben gekommen, mehr als tausend wurden verletzt, viele darunter schwer. Unter den Opfern befinden sich Demonstranten und neun Polizisten.

Die Ukraine gleicht immer mehr einem Pulverfass, an dem die Lunte in Brand gesetzt wurde. Das Land steht jetzt tatsächlich an der Kippe zum Bürgerkrieg. Teile der Polizei sollen sich gegen Präsident Wiktor Jaukowitsch gewandt und erklärt haben, nicht gegen Demonstranten vorgehen zu wollen. Er werde "verbrecherische Befehle" nicht befolgen und sich nicht gegen "friedliche Demonstranten" stellen, wird Oberstleutnant Petro Shuliak von der "Kyev Post" zitiert.

Der vorläufig als Premier installierte Serhij Arbusow wertete die blutigen Ereignisse als Umsturzversuch. Der Geheimdienst SBU nimmt Politiker der Opposition ins Visier, ihnen wird vorgeworfen, einen Staatsstreich eingeleitet zu haben. "Radikale und extremistische Gruppierungen stellen mit ihren Handlungen eine reale Gefahr für das Leben von Millionen Ukrainern dar", heißt es hier. Es würden "Terrorakte" begangen und: Terror-Organisationen dürfen "liquidiert" werden. In welchem Ausmaß die Galionsfigur der Opposition, Witali Klitschko, im Visier der Staatssicherheit ist, war gestern nicht klar.

Soldaten werden nach

Kiew verlegt

Das Militär ist einsatzbereit, Verteidigungsminister Pawel Lebedew ließ am Mittwoch Luftlandetruppen nach Kiew verlegen. Die Soldaten der 25. Brigade aus Dnjepropetrowsk werden nach offizieller Version benötigt, um Waffen- und Munitionsdepots zu sichern. Noch gilt nicht das Kriegsrecht in der Ukraine, das den Einsatz von Militär gegen Demonstranten erlauben würde. Das kann sich ändern.

Rückendeckung erhält Präsident Janukowitsch aus dem Kreml, der sich die endgültige Niederschlagung der Protestbewegung mit allen Mitteln vorstellen kann. Präsident Wladimir Putin, dessen Amtsführung autoritäre Züge trägt, will dadurch verhindern, dass das Beispiel Ukraine Schule macht. Moskau stufe die Proteste in Kiew als versuchten Staatsstreich ein, hieß es gestern, man wolle aber nicht direkt eingreifen. Die Staatsduma äußert sich drastischer: Man werde der Ukraine keine Entwicklung nach jugoslawischem Muster zuzulassen und sei bereit, dem Brudervolk zu helfen. Die jetzige Entwicklung sei "von Gesetzlosigkeit" geprägt, welche von "den Radikalen provoziert" und "wenn man dies als Kriegsoperation betrachtet, gut organisiert wurde".

Die Lage in Kiew ist brandgefährlich, weil die Demonstranten über ein Arsenal an Waffen und Munition verfügen. In Lemberg wurde ein Waffendepot der Sicherheitskräfte von 5000 Menschen gestürmt, laut Geheimdienst-Chef Alexander Jakimenko befinden sich 1500 Waffen und 100.000 Schuss Munition "in den Händen der Verbrecher".

Der Aufstand ist längst nicht mehr auf Kiew beschränkt. Im Westen des Landes, wo die Opposition stark ist, gingen mehrere Polizeistationen in Flammen auf. Im Osten brannten hingegen Parteizentralen der Opposition. Aktivisten im westukrainischen Lemberg sagten sich von der Führung in Kiew los und erklärten die Stadt für politisch autonom.

Während in Europa und den USA der Schock über das Blutbad vom Dienstag tief sitzt, scheint eine politische Annäherung in Kiew derzeit ausgeschlossen. Präsident Janukowitsch macht die Opposition für die Eskalation alleine verantwortlich, alle Krisengespräche mit Klitschko brachten keine Annäherung.

Beide Seiten

auf Konfrontationskurs

Der Graben wird im Gegenteil immer tiefer. Der Präsident ließ den Ex-Profiboxer in der Nacht auf Mittwoch lange warten, um ihm dann mitzuteilen, dass es nichts Neues zu bereden gäbe. Das Regime fordert, dass die Demonstranten den Maidan räumen. Die Opposition sei zum Versuch übergegangen, "die Macht mit Pogromen, Brandstiftung und Mord an sich zu reißen". Die Regierungsgegner hätten eine Grenze überschritten, als sie ihre Anhänger dazu aufgerufen hätten, mit Waffen auf den Maidan zu ziehen. Bisher habe er von Gewaltanwendung Abstand genommen, so der Präsident, nun hätten seine Berater ihm ein härteres Durchgreifen nahegelegt. Sollte sich die Opposition nicht von radikalen Kräften distanzieren, dann werde er einen anderen Ton anschlagen.

Die Regimegegner lassen sich davon nicht beeindrucken. Klitschko selbst rief seine Anhänger auf, den Maidan als "Insel der Freiheit" mit allen Mitteln zu verteidigen. In der Tat bereiten sich die Demonstranten auf dem Maidan auf eine weitere Runde im direkten Schlagabtausch vor. Molotowcocktails wurden am Mittwoch bereitgestellt, die Barrikaden verstärkt. "Wir gehen hier nicht weg", stellte Klitschko klar. Wie zwei Schnellzüge rasen die verfeindeten Lager aufeinander zu, die Angst vor den großen Crash steigt.