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Ukrainische Hassliebe

Von Veronika Eschbacher

Politik

Viele Menschen aus dem Donbass sind vor dem Krieg nicht ins nähere Russland, sondern in andere Teile der Ukraine geflohen. Dort treffen sie, die sich für die Ukraine entschieden haben, aber auch auf Skepsis - bis hin zu offenen Anfeindungen.


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Kiew. Jan Okunew schüttelt den Kopf. "Acht Monate lang haben sie bei uns gewohnt, nicht an einem Tag haben wir uns darüber beschwert", erinnert er sich an das Jahr 1986. Wenige Tage nach dem Super-Gau Anfang April in Tschernobyl waren zwei Familien aus einem Dorf nördlich von Kiew und somit unweit des Unglücksreaktors zu ihnen ins 600 Kilometer westlicher liegende Donezk gezogen. Der 42-Jährige klopft mit seinem wuchtigen Goldring am Ringfinger ungeduldig auf das Lenkrad seines Lexus, während er im Zentrum Kiews darauf wartet, dass die Ampel auf grün springt. "Wir aber sind nach genau einer Woche bei unseren Kiewer Verwandten ausgezogen", sagt er. "Das sind keine guten Leute hier in Kiew."

Jan ist einer von mittlerweile 2,4 Millionen ukrainischen Kriegsflüchtlingen. Während etwa 900.000 vor den Kämpfen im Donbass ins Ausland geflohen sind, sind 1,3 Millionen Ostukrainer Binnenflüchtlinge. Rund die Hälfte von ihnen zog es laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR in die Gebiete außerhalb der Oblaste Donezk und Luhansk, die teilweise unter Kontrolle der Aufständischen stehen, wo die "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk ausgerufen wurden. Sie flüchteten also in jene Landesteile, die Kiew kontrolliert. Viele sind inzwischen gut integriert. Es gibt aber auch jene, die ihre Anwesenheit als schwierig empfinden.

Im Jänner, kurz bevor die Kämpfe im Osten abermals eskalierten, hatte Jan entschieden, seinen Geburtsort Donezk zu verlassen. Es sei nicht nur am ständigen Beschuss gelegen, sagt er. Mit seinen drei Geschäften in Donezk war kein Geld mehr zu verdienen. Und sein Sohn besuchte die wichtige 10. Klasse. "Die Zeugnisse der Volksrepublik Donezk, die nimmt doch keiner ernst", sagt Jan. Er wolle seinem Sohn deswegen keine Chancen verbauen. Und da er Verwandtschaft in Kiew hatte, entschied er sich für einen Umzug Richtung Westen.

Wohl fühlt er sich in seiner neuen Umgebung aber beileibe nicht. "Jeden Morgen, wenn ich zu meinem Auto gehe, hat mir jemand ‚Separatist‘ darauf geschrieben", sagt er, zieht seinen goldene Uhr hoch und die Ärmel des verzierten lila Hemds nach unten, sodass kleine, selbst gestochene Tätowierungen am Handrücken halb verdeckt werden. "Alle glauben, wir sind Separatisten!", empört er sich.

Gegenseitiges Misstrauen

Dass "alle" außerhalb des Donbass die dortigen Bewohner als Separatisten sehen, ist freilich übertrieben. Dennoch ist das gegenseitige Misstrauen groß. Spricht man Ukrainer auf ihr Verhältnis zu den Menschen aus dem Donbass an, erhält man heute zuerst meist Worte des Mitleids für deren Situation. Denen können schnell aber auch herbe Vorurteile und harte Verurteilungen folgen. "Das sind doch nur Verbrecher, Debile und Alkoholiker", hört man dann.

"Die Leute aus dem Donbass haben nun einmal einen schlechten Ruf, das kann man nicht verschweigen", sagt Andrej Poschkajew aus Kiew. Man erkenne sie - im Gegensatz zu den "kultivierten" Kiewern - bereits an ihrem Verhalten, glaubt der Finanzmanager. Die durchaus auch gut betuchten Flüchtlinge würden heute Restaurants und Nachtclubs der Hauptstadt füllen. Dabei sollen sie sich aber unangenehm benehmen, immer wieder soll es Streitigkeiten geben. Sie würden protzen. Die Preise in die Höhe treiben. Und mit den Firmen, die sie mitübersiedelten, in einer ohnehin angespannten Wirtschaftslage für zusätzliche Konkurrenz sorgen.

Für Katarina Pintschuk, Angestellte aus Kiew, ist das keine neue Erscheinung. "Die Leute aus dem Donbass haben mit ihrem Reichtum immer angegeben und auf den Rest des Landes herabgesehen, vor allem den lange unterentwickelten Westen", sagt die 51-Jährige. "Dabei haben sie ihren Reichtum doch großteils durch Diebstahl erworben", ist sie überzeugt. "Was heute dort vor sich geht, haben sie selbst verdient. Eine Art Karma!"

Verbale Ausschläge und Vorbehalte gegenüber den Menschen im Donbass gibt es nicht erst seit dem Krieg im Osten. Der Donbass war immer eine widerspenstige Region. Zwischen 1917 und 1921 konnten weder Kommunisten noch antikommunistische Weiße noch verschiedene ukrainische Nationalisten dort Fuß fassen. Und auch während der gesamten kommunistischen Ära blieb das riesige industrielle Zentrum ein Problemkind Moskaus. "Die Region war ein Land der Zuflucht und Freiheit", schreibt der Historiker Hiroaki Kuromiya. Sie galt - wegen ihrer Liebe zur Freiheit - als guter Ort, um sich zu verstecken. Gleichzeitig war der Donbass wie Sibirien aber auch eine Strafkolonie. Die extrem harten und zermürbenden Arbeitsbedingungen machten die Region zu Abladeplätzen für politisch unterwünschte Personen.

Und so hält sich bis heute die Meinung, der Donbass sei schwer kriminell. Die Regentschaft des im Vorjahr abgesetzten Präsidenten Wiktor Janukowitsch, der ebenfalls aus der Region stammt, konnte dies nicht ändern. Es war zwar das erste Mal, dass der sonst so freiheitsliebende Donbass versuchte, die Kiewer Zentralmacht zu übernehmen - und sich so auch in den ukrainischen Politikkörper zu integrieren. Das Resultat jedoch war fatal. Unter Janukowitsch und seinen Freunden aus dem Donbass explodierte die Korruption im Land. Das trägt man den Menschen von dort bis heute nach.

Vorwürfe machen die Ukrainer den Menschen im Donbass aber auch, weil sie im Vorjahr, als Aufständische eine Gebiets- und Stadtverwaltung nach der anderen übernahmen, untätig blieben und nicht für Kiew einstanden. "In Charkow und Odessa gab es keinen Umsturz, warum bei Ihnen?", fragt Wiktor, ein Angestellter aus Lemberg. Beide Städte galten immer als stark pro-russisch.

Dabei standen nie die Chancen besser als nach der Revolution, dass sich die Bewohner des Ostens und des Westens, denen ständig von allen Seiten eingetrichtert worden war, wie verschieden sie doch seien, näher kommen. Denn auf dem Maidan hatten sie urplötzlich zusammengefunden. Westukrainer, die immer davon überzeugt waren, sie seien die wahren Ukrainer, denn für lange Zeit in der Geschichte, so die Überzeugung, hatten nur sie die ukrainische Sprache und Kultur bewahrt, als der Osten des Landes unter russischer Herrschaft war - standen im Kampf gegen Janukowitsch plötzlich neben Menschen aus Donezk, Slawjansk oder Mariupol auf den Barrikaden. Und erkannten in ihnen Ukrainer. Erkannten in ihnen Menschen, die die gleichen Werte teilten.

Aber die Nähe währte nur kurz, die neuen Erkenntnisse konnten sich nicht setzen. Die zarten Bande hielten nicht. Der Krieg kam dem endgültigen Schulterschluss dazwischen. Und hat ihn vielleicht für Jahre aufgeschoben.

Diskussion um die Zukunft

Vielleicht auch endgültig verhindert. "Die Anzahl der Ukrainer steigt, die sagen, dass man den Donbass vergessen soll", sagt Wiktor Zamjatin, Politologe des Kiewer Razumkow Centers. Vielen Ukrainern stößt der Zick-Zack-Kurs des Donbass sauer auf. Immerhin hatten nach der Annexion der Krim durch Russland viele geglaubt, der Donbass würde ähnlich schnell und problemlos in Russland aufgehen wie die Halbinsel. Nachdem dem nicht so war, "wäre die Ukraine wieder gut genug", mokieren Ukrainer gerne.

"Der Großteil der Ukrainer ist aber gegen ein Abtreten des Donbass", sagt Zamjatin. Die Ukrainer würden es jedoch ablehnen, dass das Gebiet und seine Bevölkerung im Vergleich zu anderen Regionen spezielle Vorteile erhalten solle, sagt Zamjatin. Diese fordert Jan aber ein. "Ich liebe die Ukraine", sagt er, der mit Schulschluss nach Donezk zurückkehrte. "Aber sie haben uns den Krieg gebracht, sie sollen uns auch die Autonomie gewähren".