Verzweifelt appelliert Kiew, doch der Westen zögert mit noch härteren Maßnahmen gegen Russland.
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Der Kontrast könnte kaum größer sein: Während Andrij Melnyk spricht, ist im Hintergrund das blau-gelb illuminierte Brandenburger Tor zu sehen. Die Berliner Sehenswürdigkeit erstrahlt in Solidarität mit der Ukraine in dessen Landesfarben. Doch der ukrainische Botschafter in Deutschland ist zutiefst verbittert. Er habe seit Jahren nicht mehr geweint, sagt er im ZDF, doch am Tag des russischen Angriffs auf sein Heimatland seien ihm die Tränen gekommen. Fassungslos macht Melnyk auch, wie deutsche Politiker sein Flehen nach militärischer Hilfe negiert haben. "Jede Bitte, uns jetzt zu helfen, wurde einfach abgeschmettert. Wie kann man so kaltherzig und stur bleiben?", ließ er ohne Rücksicht auf diplomatische Etiketten seiner Frustration freien Lauf.
Dass sich Deutschland aufgrund seiner Geschichte im 20. Jahrhundert besonders schwer mit Kriegen tut, weiß Melnyk natürlich. Entsprechend gering waren von Beginn an die ukrainischen Erwartungen. Dass der Beitrag der Bundesrepublik jedoch nur aus 5.000 Militärhelmen bestehen soll, sorgte international für Kopfschütteln. Die Ausrüstung ist bis dato nicht in der Ukraine eingetroffen. Besonders verstörend: Die Bundesrepublik hat sogar die Bewaffnung der Ukraine aktiv verhindert. Estland wollte Haubitzen weitergeben, die ursprünglich aus DDR-Beständen stammen. Daher war eine deutsche Ausfuhrgenehmigung vonnöten. Doch sie kam und kam nicht.
Keine Soldaten für die Ukraine
Das kleine baltische Land behalf sich, indem es im Verbund mit Lettland und Litauen amerikanische Waffensysteme an die Ukraine lieferte - mit Einverständnis der USA. Dazu zählt die Panzerabwehrrakete Javelin, sie gilt als modernste ihrer Gattung. Weitere Nato-Staaten, allen voran Großbritannien, rüsteten die Ukraine ebenfalls aus. So auch Polen, einer der engsten Verbündeten der Regierung in Kiew. Warschau gab unter anderem die Lieferung hitzegelenkter Waffen frei, die wenige Kilometer entfernte Flugzeuge bekämpfen können, sorgte für Drohnen und Munition. Soldaten entsenden aber selbst die besten Freunde Kiews nicht.
Dabei ist allen klar: Die Ukraine ist gegen Russland militärisch unterlegen, beginnend bei der Luftabwehr. Nur bei einem Einsatz von Truppen aus Nato-Ländern könnte sich das Kräfteverhältnis ändern. Diese Option wurde allerdings vom Militärbündnis von Beginn an ausgeschlossen, zu groß erschien die Gefahr einer nuklearen Eskalation.
Bleiben noch finanzielle Gegenmaßnahmen, um den russischen Präsidenten zu hemmen. Doch auch hier bremst Deutschland, insbesondere Kanzler Olaf Scholz. Er sprach sich beim EU-Gipfel am Donnerstag dagegen aus, dass Russland aus dem internationalen Banken-Kommunikationssystem Swift ausgeschlossen wird. 11.000 Institute weltweit gehören dem Netzwerk an, ausgeschlossen sind Paria-Staaten wie Nordkorea oder der Iran. Scholz wollte sich Swift-Sanktionen für eine weitere Eskalation der Lage aufheben. Zwar können lange gehaltene Positionen dieser Tage schnell geräumt werden, wie bei der Pipeline Nord Stream 2 geschehen. Deren Inbetriebnahme legte Deutschland auf Eis. Nach der Swift-Entscheidung vom Donnerstag fragte sich aber nicht nur Botschafter Melnyk, was denn mehr passieren müsse als ein bewaffneter Überfall auf Land und Leute.
Der deutsche Kanzler sagt stets, Putin werde einen hohen Preis für seine Aggression zahlen. Weil aber Deutschland mehr als die Hälfte seines Gasbedarfs aus russischen Quellen deckt, stellt sich die Frage umgekehrt: Welchen Preis ist nicht nur Deutschland, sondern sind die EU-Staaten bereit zu zahlen, um den Erhalt der Ukraine als demokratisches Land im Osten unseres Kontinents substanziell zu unterstützen?
Die Osteuropäer scheinen gewillt, höhere Kosten zu tragen als Westeuropäer. Denn auch wenn ein Ausschluss Russlands aus Swift Auswirkungen auf sie selbst hätte, drängen sie auf diese Maßnahme. So wiederholten Litauen, Lettland und Estland diese Forderung vor und nach dem EU-Gipfel. Der lettische Präsident Egils Levits plädierte überhaupt dafür, das "kriminelle Regime" in Moskau von der Welt zu isolieren, ähnlich wie Nordkorea.
Keine Rede mehr von Paranoia
Auch Slowenien sprach sich für härtere Strafmaßnahmen gegen Russland aus. "Wir müssen viel weiter gehen", schrieb Premier Janez Jansa in einem gemeinsamen Brief mit seinem polnischen Amtskollegen Mateusz Morawiecki. Außerdem müsse die EU der Ukraine bei deren Bemühungen helfen, ein "starkes, dynamisches, demokratisches und florierendes" Land aufzubauen. Die Union habe auch ein geeignetes Instrument dafür, führen die zwei Politiker aus: die Erweiterungspolitik.
Ein präziser Plan sei nötig, um die Ukraine bis 2030 in die EU zu integrieren. Seine erste Phase wäre, dass die Union rasch die EU-Perspektive des osteuropäischen Landes unterstreicht und diesem den EU-Kandidatenstatus gewährt. Dass die Ukraine möglicherweise nicht ihr gesamtes Territorium kontrolliert, dürfe kein Gegenargument darstellen, finden Jansa und Morawiecki.
Die Appelle, die Ukraine näher an die EU, aber auch - wenn nicht vorrangig - an die Nato zu führen, sind nicht neu. Vor allem Polen setzte sich immer wieder dafür ein. Das Land war auch Architekt der sogenannten östlichen Partnerschaft der EU, die Unterstützung nicht nur der Ukraine, sondern auch Weißrussland, Armenien, Aserbaidschan, Georgien und Moldawien anbietet. Eine Beitrittsperspektive beinhaltet sie allerdings nicht, anders als von Polen gewünscht. Die Rufe danach verpufften - ebenso wie die Warnungen vor einer Aggression Russlands. Stattdessen wurden Polen und die baltischen Staaten im Westen und Norden Europas als beinahe paranoid angesehen. Nun kann nicht mehr die Rede davon sein.