Die Ukrainer selbst zweifeln an ihrer Armee und setzen auf Selbstorganisation.
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Kiew. Noch vor einer Woche hätten ihn die Menschen täglich gefragt. Ob er denn wirklich glaube, dass es passieren könnte? Doch mittlerweile sei die letzte, stille Hoffnung einer nüchternen Einsicht gewichen. "Mit jedem Tag wächst die Anzahl der Menschen in der Ukraine, die sich auf einen Krieg vorbereitet", schreibt der renommierte Polit-Analyst Sergej Rahmanin im Wochenmagazin "Zerkalo Nedeli".
Und erzählt, wie die Menschen bereits ihre Vorräte an Batterien und Konserven aufstocken oder Männer mithilfe von alten, abgegriffenen Handbüchern ihre Maschinengewehr-Kenntnisse wieder auffrischen. Schleichend verbreiten sich immer mehr Artikel in ukrainischen Medien mit Titeln wie "Wir lernen zu kämpfen" oder "Express-Kurs für den Reservisten". Und während sich die Zivilbevölkerung fast im Stillen auf eine mögliche militärische Konfrontation einstellt, werkt auch die politische Führung, wo sie kann.
Nur wenige Minuten, nachdem das Regionalparlament der Krim am Montag als Bestätigung des Referendums einstimmig für eine Eingliederung in das benachbarte Russland votierte, gab das Parlament in Kiew seine Zustimmung zu einer Teilmobilisierung der Armee. Übergangspräsident Alexander Turtschinow begründete dies mit der "Zuspitzung der politischen Lage im Land" und mit der "Einmischung Russlands in die inneren Angelegenheiten".
Dem Gesetzestext zufolge sollen innerhalb der nächsten 45 Tage 20.000 zusätzliche Kräfte in die reguläre Armee einberufen werden, weitere 20.000 in die erst vorige Woche gegründete Nationalgarde. Betroffen sind alle ukrainischen Provinzen mit Ausnahme der Autonomen Republik Krim - von dort werden nur Freiwilligenmeldungen angenommen. Laut Vize-Premier Vitalij Jarema will man die jetzt nötigen Spezialisten - "das könnten Panzerfahrer, Kanoniere und Infantristen sein" - so gut wie möglich mit Freiwilligenmeldungen abdecken.
Gleichzeitig stimmte das Parlament für eine Budgetumschichtung, die der Armee zusätzlich 600 Millionen Euro für 2014 zuteilte. Die Gelder sollen für die Anschaffung von Kriegsgerät, Kommunikationsmittel und zur weiteren Mobilmachung verwendet werden.
Indes ist weiterhin unklar, was mit den auf der Krim verbliebenen ukrainischen Streitkräften passieren soll. Die Übergangsregierung in Kiew teilte am Montag mit, dass sie ihre Truppen auch nach dem Referendum über die Unabhängigkeit nicht von der Halbinsel abziehen will. Die ukrainischen Einheiten blieben auf der Krim stationiert, sagte Verteidigungsminister Igor Tenjuch. "Wir wollen keinen Krieg, aber von alleine werden wir unser Territorium nicht verlassen", erklärte Jarema.
Der Präsident des prorussischen Krim-Parlaments hatte zuvor erklärt, die Abgeordneten der Vertretung arbeiteten an einer Auflösung der ukrainischen Militärstützpunkte. Soldaten, die bleiben wollten, könnten in örtliche Streitkräfte integriert werden.
Selbstmobilisierung gegen Vertrauenskrise
Eine realistische Chance gegen die russischen Streitkräfte wird der Ukraine von keinem militärischen Experten eingeräumt. Und auch den Ukrainern, die über die letzten Tage begonnen haben, Lebensmittel, Feuerzeuge und Taschenlampen zu horten, bereitet der Zustand ihrer Armee, die über die letzten Jahre ausgehungert wurde, große Sorgen. "Sich auf die Effektivität unserer Armee zu verlassen, ist genau so naiv, wie an eine Unvoreingenommenheit unserer Justiz zu glauben", erklärte etwa Wladislaw Kiritschenko am Montag. Kiritschenko ist Koordinator der Zivilinitiative "Ukrainische Reserve-Armee" (URA). Das ist eine von zahlreichen Privatinitiativen, die quer durch die ganze Ukraine gerade paramilitärische Vereinigungen bilden - nicht zuletzt, weil sie auch an der Effektivität der politischen Führung zweifeln.
Unterstützt werden die neuen Gruppierungen oft von denselben Kräften, die bereits die Revolutionäre auf dem Maidan versorgten. Kiritschenko ist nach seiner Erfahrung am Maidan überzeugt, dass jeder in der Ukraine - immerhin hatte auch er keine Erfahrung - ein "Start-up Reservistenbewegung" auf die Beine stellen könne. "Der Sieg im Februar am Maidan hat den Glauben an die eigenen Kräfte vervielfacht", ist auch Rahmanin überzeugt.