Der evangelische Theologe Ulrich H. J. Körtner erklärt die Unterschiede zwischen Protestantismus und Katholizismus, beurteilt die Möglichkeiten der Ökumene im Zeitalter der religiösen Unterschiede und denkt über Fragen der Bioethik nach.
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Wiener Zeitung:Herr Körtner, wie sinnvoll ist das Schlagwort von der "Wiederkehr der Religion"?Ulrich H. J. Körtner: Ich finde den Begriff "Wiederkehr" irreführend. Er klingt so, als sei die Religion in unseren Breitengraden völlig verschwunden gewesen, und das wird man in dieser Radikalität nicht behaupten können. Sie ist lediglich nicht immer so intensiv als öffentliches Thema diskutiert worden, wie das im Augenblick der Fall ist. Was man aber sicher beobachten kann, das ist die Wiederkehr der Religion in die Politik. Wir erleben derzeit den Versuch, das Politische zu re-theologisieren.
Das zeigt sich zum Beispiel in der Diskussion um die Frage, ob Gott in der EU-Verfassung genannt werden soll oder nicht. Bewerten Sie es positiv, dass sich die Politik auf die Religion besinnt, oder ist das ein Rückfall in dunkle Zeiten?
Ich glaube, dass die sogenannte "Säkularisierung" ein Gewinn ist. Die Religionsfreiheit, die auch die Möglichkeiten des Religionswechsels und der Religionslosigkeit einschließt, ist eine Frucht der Aufklärung, sicher auch eine Folge der Reformation und der gewalttätigen Konflikte, die in Europa daraus entstanden sind. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist der weltanschaulich neutrale Staat, der aber doch ein religionsfreundliches Klima schafft. Ihn sollten wir nicht preisgeben, auch wenn politische Konflikte zurzeit wieder verstärkt wie religiöse Konflikte verhandelt werden. Das gilt vor allem für den Islam. Der Symbolhaushalt dieser Religion wird benutzt, um Opposition gegen die westliche Welt zu artikulieren, nachdem der Marxismus seine Überzeugungskraft verloren hat.
Es gibt allerdings auch andere Formen der politisierten Religion, etwa den amerikanischen Fundamentalismus, der stark protestantisch geprägt ist. Er hat in Europa keine große Bedeutung, wenngleich es auch hier evangelikale und charismatische Bewegungen gibt. Schließlich zeigen sich auch im Katholizismus Strömungen, die wieder stärkeren Einfluss auf die Politik gewinnen möchten. Die Aufklärung hatte die Religion zur Privatsache erklärt, aber im Augenblick zeigt sich wieder einmal deutlich, dass sie ein öffentlicher Faktor ist. Trotzdem glaube ich nicht, dass eine Re-Theologisierung der europäischen Politik wünschenswert wäre. Gerade als christlicher Theologe halte ich es für sehr wichtig, dass die Trennung von Kirche und Staat und damit die Unterscheidung zwischen dem Religiösen und dem Politischen erhalten bleibt.
Zur öffentlichen Wirksamkeit der Religion gehört auch ihre mediale Beachtung. Zwei religiöse Ereignisse der letzten Jahre waren zugleich auch Medien-Events erster Güte: Der Tod des Papstes Johannes Paul II. und der Auftritt seines Nachfolgers Benedikt XVI. auf dem Weltjugendtag in Köln. Wie beurteilen Sie diese publikumswirksamen Auftritte des Katholizismus?
Man muss anerkennen, dass die katholische Frömmigkeit auf Grund ihrer Tradition und ihrer Theologie sehr medientauglich ist. Der Protestantismus verfügt über diese Qualitäten nicht, und es gibt bei uns verunsicherte Gläubige, die das bedauern. Aber bei mir regt sich hier vor allem der protestantische Widerspruchsgeist. Ich halte die "Papamania" der vergangenen Jahre für ein zwiespältiges Phänomen. Auf der einen Seite erhält die Religion durch die mediale Inszenierung eine hohe Attraktivität, auf der anderen Seite ist nicht zu bestreiten, dass die Jugendlichen in Köln einem Papst zugejubelt haben, dessen Anschauungen sie in keiner Weise teilen. Dazu gehört auch das, was man in Ihrer journalistischen Zunft nicht unrichtig als "Feuilleton-Katholizismus" bezeichnet hat: Viel ist darüber geschrieben worden, wie wichtig und wegweisend die Gestalt Johannes Pauls II. gewesen ist, aber seine Lehren werden mitnichten beherzigt. Also, das sind bedenkenswerte Widersprüche.
Bei medialen Inszenierungen muss man sich immer fragen, wie sehr die Formate des Mediums die Botschaft prägen und dominieren. Auf der einen Seite gibt es Videoclips einer Pop-Sängerin, die sich bezeichnenderweise Madonna nennt, auf der anderen Seite vertreibt der Vatikan Videoclips mit Bildern vom Leben und Sterben des Papstes Johannes Paul II. Ich will nun beileibe nicht behaupten, dass zwischen diesen beiden Personen und ihrer jeweiligen Botschaft keine Unterschiede bestünden, aber die Bilder und ihre Verbreitungsformen gleichen einander. Darüber muss man nachdenken.
Aber ich räume ein, dass der Auftritt des Protestantismus weniger medientauglich ist. Es fehlt nicht an Versuchen, das zu kompensieren. Die Repräsentanten des österreichischen Protestantismus treten zwar medial nicht so häufig in Erscheinung, aber Bischof Wolfgang Huber, der Ratspräsident der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD), hat eine hohe mediale Präsenz. Trotzdem glaube ich, dass der Protestantismus nicht gut beraten wäre, wenn er den Katholizismus in schlechter Kopie nachahmen wollte.
Was sollte er stattdessen bieten?
Protestantische Frömmigkeit ist vielleicht eine stärkere Zumutung an das Individuum als die katholische. Zum positiven Erbe unserer Tradition gehört vor allem die hohe Predigtkultur, und damit einhergehend eine gewisse Intellektualität in Glaubensfragen. Das ist die innere Stärke des Protestantismus, und ich bin sicher, dass es auch heute Menschen gibt, die davon angesprochen werden. Wir sind allerdings in einer Umformungskrise, in der wir uns wieder stärker auf unsere eigene Tradition besinnen müssen. Pluralismus ist eine große Stärke des Protestantismus, aber bis zu einem gewissen Grad auch seine Schwäche. Die evangelischen Kirchen kennen keinen Zentralismus, was dazu führt, dass sie auf internationaler Ebene nicht gut organisiert sind. Deshalb muss überlegt werden, ob sich eine gesamteuropäische Struktur schaffen lässt, die zu größerer Beachtung protestantischer Positionen führt. Da hapert es nach wie vor ein wenig.
Es gibt immerhin eine wichtige Organisation: Die Leuenberger Kirchengemeinschaft, die 1973 auf dem Leuenberg bei Basel gegründet wurde. Dort haben fast alle protestantischen Kirchen Europas erklärt, dass die Lehrunterschiede der Reformationszeit keine trennende Bedeutung mehr haben. Dieser Organisation, die seit ein paar Jahren "Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa" (GEKE) genannt wird, gehören über hundert Kirchen an. Hier zeigt sich also das Bemühen einer europäischen Einigung. Das Generalsekretariat war lange in Berlin und ist seit Anfang dieses Jahres hier in Wien. Gut, das war jetzt ein kleiner kirchenpolitischer Exkurs, aber wer den Menschen etwas Attraktives anbieten will, muss natürlich im öffentlichen und politischen Raum auch als Organisation erkennbar sein.
Wilhelm Hüffmeier, der frühere GEKE-Generalsekretär, hat neulich gesagt, der Protestantismus brauche mehr Gottesdienste, die emotional ansprechen. In Wien gibt es katholische "find-fight-follow"-Jugendmessen, aber von evangelischer Seite sieht man nichts dergleichen. Was müsste getan werden, um die Jugend besser zu erreichen?
Also auf der Ebene der Gemeinden gibt es durchaus vergleichbare Bemühungen, aber Sie müssen auch die Größenordnungen sehen. Wir sind eine Minorität von 325.000 Evangelischen in Österreich. Allzu große Events lassen sich da nicht aufziehen. Aber es gibt gerade in der evangelischen Diözese Wien Überlegungen, wie man in einer Großstadt sichtbarer werden könnte. Dabei sollte man die Angebote, die Sie genannt haben, nicht kopieren, sondern aus der eigenen Tradition heraus Wege finden.
Damit berühren wir auch das Thema Ökumene. Kann es noch eine Zusammenarbeit zwischen der evangelischen und der katholischen Kirche geben?
Wir haben in Österreich eigentlich seit Jahren ein sehr gutes ökumenisches Klima. Trotzdem ist nicht zu übersehen, dass zurzeit die Differenzen stärker ins Bewusstsein rücken als die Gemeinsamkeiten. Nach wie vor werden die evangelischen Kirchen von katholischer Seite nur als kirchliche Gemeinschaften, nicht aber als Kirchen anerkannt - im Unterschied zu den orthodoxen Kirchen. Überdies hat Papst Benedikt XVI. ausdrücklich erklärt, dass ihm die Zusammenarbeit mit der Orthodoxie wichtiger sei als die mit der evangelischen Kirche. In dieser Situation sollten auch wir das eigene Profil stärker betonen. Aufgabe der Ökumene sollte es ja nicht sein, alle Differenzen zu verwischen, sondern zu überlegen, wie man mit dem bestehenden Differenzen umgehen kann.
Aber Sie befürchten kein Ende der Ökumene?
Nein, das nicht. Ich glaube aber, dass sie eine andere Qualität bekommen wird. Die alte "Konsens-Ökumene", die im Wesentlichen auf die Beseitigung der Unterschiede ausgerichtet war, wird durch eine "Differenz-Ökumene" ersetzt werden, die vorhandene Unterschiede nicht leugnet, sondern produktiv macht.
Um zu einem ethischen Problem zu kommen: Vor einigen Wochen wurde ein noch schlagendes Herz durch Wien gekarrt, damit eine Operation rechtzeitig durchgeführt werden konnte. Ebenso werden aus Ländern der Dritten Welt Nieren und andere Organe exportiert, als ob der Mensch ein Rohstofflager wäre. Sind solche Entwicklungen gerechtfertigt?
Zur Lebensverlängerung um jeden Preis sage ich klar nein. Ich bin aber auch nicht der Ansicht, die modernen Mittel der Lebenserhaltung und -verlängerung seien generell unchristlich oder bibelfeindlich. Man muss sich aber klar machen, welche wissenschaftlichen Verfahren mit christlichen Wertvorstellungen vereinbar sind, welche nicht. Um auf das Beispiel des schlagenden Herzens zu kommen: Soweit ich sehe, wird das Eintreten des Hirntods in den großen christlichen Kirchen als hinreichendes Kriterium für den Tod eines Menschen akzeptiert. Dieser Argumentation folgend, ist es ethisch zulässig, dass bei eingetretenem Hirntod ein schlagendes Herz dem Körper entnommen wird. Der Organhandel, den Sie angesprochen haben, ist davon allerdings zu unterscheiden. Denn dabei stellt sich die Frage, ob diese Organe unter ethisch akzeptablen Bedingungen beschafft werden, oder ob kriminelle Machenschaften dahinter stehen. Dies ist sehr genau zu untersuchen, und ich halte es für eine Aufgabe der Kirchen, auf jeden Missbrauch in diesem Bereich hinzuweisen.
Generell muss gefragt werden, wie die Würde und das Selbstbestimmungsrecht der verstorbenen Organspender gewahrt werden können. Es gibt zwei Möglichkeiten, dieses Problem rechtlich zu regeln: die Zustimmungslösung, die besagt, dass ein Organ nur entnommen werden darf, wenn der Betroffene seine Einwilligung gegeben hat; oder die Widerspruchslösung, die besagt, dass jeder als Organspender in Frage kommt, der zu Lebzeiten nicht ausdrücklich widersprochen hat. In Österreich gilt die Widerspruchslösung, was aber nicht sehr bekannt ist. Da sich viele Menschen mit dieser Frage niemals beschäftigt haben, halte ich es als Ethiker für problematisch, aus einem nicht vorhandenen Widerspruch auf eine Zustimmung zu schließen. Auf der anderen Seite führt die Widerspruchslösung dazu, dass wir sozusagen ein größeres Organaufkommen haben als andere Länder, und dass es dadurch seltener zu fragwürdigen Organimporten kommt.
Ethische Probleme dieser Art sind ja erst durch die ungeheuren Fortschritte der Medizin und der Biologie entstanden, von denen das Neue Testament noch nichts wissen konnte. Wie kompetent kann sich ein Christ zu diesen Problemen äußern, obwohl ihn seine Heilige Schrift dabei im Stich lässt?
Natürlich entsprechen die biblischen Auskünfte über das menschliche Leben nicht dem heutigen Stand der medizinischen Kenntnis. Die religiöse Überzeugung, dass die Welt eine Schöpfung Gottes ist und ich selbst eines seiner Geschöpfe bin, sagt deshalb auch nichts über die Grenzen des medizinisch Zulässigen aus. Die absolute Grenze ist erreicht, wenn die Menschenwürde (einschließlich der körperlichen und geistigen Unversehrtheit) verletzt wird. Davon abgesehen sage ich aber ganz fromm: Wenn vom Menschen als Geschöpf und Ebenbild Gottes gesprochen wird, dann ist es offenbar auch der göttliche Wille, dass der Mensch Intellekt hat. Dem Zuwachs von Wissen und Können erwächst allerdings auch eine Verantwortung, aus der wir uns nicht mit dem Hinweis auf vermeintlich gottgegebene Grenzen verabschieden können.
Das ist allerdings eine ethische Zumutung: Ich muss als Christ neu verstehen lernen, was es heißt, ein Geschöpf Gottes zu sein. Auch wenn ich daran glaube, dass mir mein Leben von Gott gegeben ist, entkomme ich ja im Fall einer schweren Krankheit nicht der Entscheidung für oder gegen eine Operation. Es ist eine persönliche Glaubensentscheidung, ob jemand meint, für ihn sei der Zeitpunkt gekommen, sein Leben in Gottes Hand zurückzulegen, oder ob er glaubt, Gott wolle, dass er am Leben bleibe. Wenn wir die Freiheit in Glaubensdingen ernst nehmen, können wir nicht von außen sagen, wann für jemanden der Zeitpunkt gekommen ist, zu sterben. Die Euthanasie halte ich zwar nicht für vertretbar, ob sich jemand jedoch noch einer weiteren Chemotherapie unterzieht oder nicht, ob er die Magensonde verweigert oder annimmt - das muss jeder Einzelne mit seinem Herrgott ausmachen.
In den USA und in Italien gab es in den letzten Jahren große Diskussionen, inwieweit es vertretbar ist, das Ende des Lebens durch Abschalten von medizinischen Hilfsmitteln zuzulassen. Gibt es ein Recht zu sterben?
Es gibt ein Lebensrecht, aber keine Lebenspflicht. So gesehen gibt es auch ein Recht zu sterben. Lebenserhaltende Maßnahmen sind daher auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten zu beenden. Das ist etwas anderes als Tötung auf Verlangen. In den beiden heftig diskutierten Fällen waren die getroffenen Entscheidungen meines Erachtens ethisch vertretbar, denn der Respekt vor der Gewissensentscheidung des Einzelnen ist christlich geboten.
Zur Person:
Ulrich H. J. Körtner, geboren am 16. April 1957 in Hameln, ist evangelischer Theologe und Medizinethiker. Er studierte in Bethel, Münster und Göttingen. Seine Promotion über Papias von Hierapolis (1982) und seine Habilitation über die Apokalyptik (1987) erfolgten an der Kirchlichen Hochschule Bethel. Von 1986 bis 1990 war er als Gemeindepfarrer in Bielefeld, von 1990 bis 1992 als Studienleiter an der Evangelischen Akademie Iserlohn tätig.
Seit 1992 ist Körtner Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Außerdem ist er Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien. Neben der Medizinethik liegt ein anderer Schwerpunkt seiner Arbeit auf dem Gebiet der Hermeneutik, ein weiterer auf dem der Ökumene.
Ulrich H. J. Körtner ist Mitbegründer der Rudolf-Bultmann-Gesellschaft für Hermeneutische Theologie (Vorsitzender seit 1998). 2001 wurde er für sein Auftreten in der öffentlichen Debatte, seine Beiträge und seine Bereitschaft zum Kontakt mit den Medien vom Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten in Österreich zum "Wissenschafter des Jahres" gewählt.
Zu Körtners zahlreichen Publikationen gehören: "Wiederkehr der Religion? Das Christentum zwischen neuer Spiritualität und Gottvergessenheit", Gütersloh 2006; "Wohin steuert die Ökumene? Vom Konsenszum Differenzmodell", Göttingen 2005; "Streitfall Biomedizin, Orientierung in christlicher Verantwortung" (Hg. zusammen mit Reiner Anselm), Göttingen 2003; "Anleitung zum Abschalten, Anstöße und Notizen zu einer Theologie des Alltags", Neukirchen-Vluyn 2002; "Poetologische Theologie - zur ästhetischen Theorie christlicher Sprach- und Lebensformen", Ludwigsfelde 1999; "Stückweise. Fragmentarische Reflexionen über den Sinn des Lebens", Wien 1995; "Zwischen den Zeiten, Studien zur Zukunft der Theologie", Bielefeld 1997.