Wiener Zeitung: Herr Botschafter, die OECD will ihren 30 Mitgliedstaaten im Globalisierungswettstreit sekundieren. Lässt sich deren Position halten? | Ulrich Stacher: Ziel der OECD ist es, die wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Wettbewerbsfähigkeit der 30 Mitgliedsstaaten zu stärken, damit sie im Globalisierungsprozess ihre führende Rolle beibehalten und langfristig nicht zu den Verlierern zählen. Es ist aber unbestritten, dass durch den Aufstieg von Ländern wie China, Indien oder Brasilien, um nur die großen zu nennen, die Stellung der OECD-Länder auf den Weltmärkten und in der Industrieproduktion nachhaltig beeinflusst wird und deren Bedeutung abnimmt. Die OECD hat immer auf eine Stärkung der Austauschbeziehungen zwischen den Volkswirtschaften hingearbeitet, um eine weltweite Wirtschaftsverflechtung und bessere Einkommensverteilung zu fördern. Das darf aber nicht heißen, dass der eine ärmer werden muss, damit der andere reicher werden kann. Es bedeutet vielmehr, dass man die ärmeren Länder in ihrem Nachholprozess nicht behindert, sondern unterstützt.
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Wie macht man denn die Armen reicher?
Durch die Ermöglichung einer aktiven und gleichberechtigten Teilnahme an den Märkten. So wird Nachfrage in die ärmeren Länder umgeleitet. Und diese schafft Erwerbs- und Einkommensmöglichkeiten. Wichtig ist, dass es zu fairen Tauschbeziehungen kommt, die nicht durch einseitige Nutzung von Handels- oder technologischen Vorteilen zu einer neuen Form von Ausbeutung führen. Wenn China oder Indien heute reicher werden und ein größeres Wirtschaftswachstum haben, dann nicht nur wegen ihrer fortschreitenden Integration in eine globalisierte Wirtschaft, sondern vor allem aufgrund ihrer eigenen Binnennachfrage und gesteigerten Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit.
Wie sieht die Stimmgewichtung innerhalb der OECD aus?
Jedes Land hat eine Stimme - Österreich genauso wie die Vereinigten Staaten. Es gibt keine Stimmgewichtung, daher sind weder die Größe des Landes, noch dessen Mitgliedsbeiträge, Bevölkerungszahl oder Wirtschaftskraft ausschlaggebend. Bei der Festsetzung der Mitgliedsbeiträge wird das Bruttonationalprodukt als wesentliches Kriterium herangezogen. Österreich zahlt einen jährlichen Beitrag von knapp über einem Prozent des BNP.
Viele große Staaten erachten die Diskrepanz zwischen Stimmrecht und Mitgliedbeitrag als realpolitisch verzerrend und nicht zeitgemäß, und fordern eine Neufestsetzung der Finanzierungsgrundlagen.
Sie waren lange Jahre als Wirtschaftsexperte in Afrika tätig. Was sind Ihrer Ansicht nach die größten Aufgaben der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber diesem "kranken" Kontinent - und was können die afrikanischen Staaten von sich aus leisten?
Die größte Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft besteht darin, Afrika ernster zu nehmen und es nicht nur als Krisengebiet einzuschätzen. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass dort fast eine Milliarde Menschen leben. Afrika ist ein riesiger Wachstumskontinent mit enormem Wirtschaftspotenzial, wo aber die Probleme immer größer werden und einer Lösung dringend bedürfen.
Ist der Schuldenerlass ein Allheilmittel?
Mit dem Schuldenerlass, der sehr oft als maßgebliche Hilfe für Afrika genannt wird, sehe ich schwerwiegende Probleme verbunden. Damit tritt zwar eine momentane finanzielle Entlastung ein, aber es wird auch die Möglichkeit der Neuverschuldung gegeben. Nimmt man die neuen Schulden nach den gleichen Kriterien wie die alten auf, bringt das keinerlei strukturelle Verbesserung. Die alten Schulden führten oft zu völlig verfehlten Investitionsprojekten und zu Waffenkäufen. Hier sind die Kreditgeber zur Disziplin aufgerufen, besonders die Industrieländer. Neben Investitionen zur Stärkung der Exporte und der Produktion zur Eigenversorgung wären die Seuchenbekämpfung und präventivmedizinische Maßnahmen dringend in Angriff zu nehmen. Aber hier ist man mit Auffassungsproblemen konfrontiert.
Mit Auffassungsproblemen welcher Art?
Viele Länder wollen die bestehenden Probleme nicht sehen oder weichen der Bekämpfung - auch aus Kostengründen - aus. Ein Beispiel dafür ist Aids. Selbst ein gut entwickeltes Land wie Südafrika behauptet, es gebe kein Aids, also seien entsprechende Gegenmaßnahmen nicht notwendig. Diese Haltung wird durch die katholische Kirche unterstützt, die Verhütung als Sünde bezeichnet. In jung missionierten Gebieten hat dies noch einen gewissen Einfluss auf das Verhalten der Bevölkerung.
Ist Afrika tatsächlich ein verlorener Kontinent?
Die Entwicklung Afrikas ist ein Langzeitprogramm. Will man diesem Kontinent wirklich helfen, muss man dort ansetzen, wo auch die heutigen Industrieländer angefangen haben: bei einem sinnvollen Aufbau der Institutionen, einem geregelten Staatswesen. Und bei Bildungsmaßnahmen, die eine breite Basis für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung schaffen, anstatt nur Eliten hervorzubringen, die dann ins Ausland abwandern.
Man muss aber auch sehen, dass viele afrikanische Länder allmählich die "Unschuld" verloren haben. Diese konnten sie am Ende der Kolonialzeit vielleicht noch mit Recht in Anspruch nehmen und somit einwenden, bisher keine Möglichkeit zu eigenständiger Entwicklung gehabt zu haben. 50 Jahre danach kann dies kein wirklich gültiges Argument mehr sein. Es gab ja - zumindest statistisch - eine enorme Masse an Kapitaltransfer nach Afrika. Der ist aber letztlich nicht nur wegen aufgeschwätzter Fehlentwicklungen versandet, sondern auch, weil eine gewaltige Korruption und missbräuchliche Verwendung von Kapital stattgefunden haben. Zusätzlich gibt es selbstzerstörerische Entwicklungen wie in Zimbabwe, wo eine reiche Volkswirtschaft durch diktatorischen Größenwahn zugrunde gerichtet wird.
Der seit 2006 amtierende OECD-Generalsekretär, Angel Gurria, fordert mehr Aufmerksamkeit für die Verlierer des Globalisierungsprozesses. Was tut die OECD, um die Entwicklung der Weltwirtschaft sozialverträglicher zu machen?
Gurria hat es tatsächlich binnen relativ kurzer Zeit zustande gebracht, die OECD vom Ruf zu befreien, überwiegend neoliberalen Wirtschaftsansätzen zu huldigen. Globalisierung wird nun als ein Prozess gesehen, in dem es Gewinner und Verlierer gibt. Die veränderten Paradigmen haben zu relativ harten Diskussionen unter den Mitgliedern geführt. Das Durchsickern des neuen Ansatzes in die Tiefen der Komiteearbeit wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen.
Welche Aspekte rücken nun in den Mittelpunkt?
Man hat neue "Querschnittsmaterien" wie Gesundheit, Wasser, Migration und Klimaentwicklung samt den jeweils zu erwartenden globalen Auswirkungen als Arbeitsschwerpunkte festgelegt. Die Produktions- und Marktverhältnisse werden auf ihre Wirtschafts- und Sozialverträglichkeit zu prüfen sein. Dabei geht es insbesondere um die Frage der Eigentums- und Verfügungsrechte sowie um die Anwendung von Regelungsmechanismen, die unter dem Titel "good governance" zusammengefasst werden.
Nehmen wir das Beispiel Gesundheit: Die Meinung, dieser Sektor funktioniere nur, wenn er marktwirtschaftlich organisiert sei, ist äußerst umstritten, weil Gesundheit zu den Grundrechten und nicht zu den marktfähigen Gütern gehört. Das Gleiche gilt bis zu einem gewissen Grad auch für Wasser.
Wasser ist speziell für Österreich ein elementares Thema.
Österreich vertritt hier in der OECD - wie auch beim Thema Gesundheit - die Haltung, dass es Güter und Dienstleistungen gibt, die nicht dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen werden können.
Hat Österreich in diesem Fall keine Mitstreiter?
Doch, Frankreich zum Beispiel. Aber vielen Ländern mit ähnlicher Ausgangslage mangelt es bisher an Problembewusstsein. Sie halten die Marktkräfte für ausreichend steuerbar, um Gefahren rechtzeitig abwenden zu können.
Im OECD-Länderbericht Österreich/2007 werden als Problembereiche etwa die geringe Erwerbsbeteiligung von älteren Menschen oder das Bildungs- und Fiskalwesen genannt. Welche Note würden Sie der österreichischen Volkswirtschaft insgesamt geben?
Nach Ihrer Aufzählung der Problembereiche kann man der österreichischen Volkswirtschaft nicht die Bestnote geben. Die OECD zieht eine verbale Bewertung vor. Der Bericht fordert eine stärkere Erwerbsbeteiligung älterer Menschen und die Hinaufsetzung des tatsächlichen Pensionsalters. Das Problem liegt aber in einer Interessenskoalition, nämlich dem Wunsch der Beschäftigen, möglichst früh aus dem Arbeitsprozess auszuscheiden, und der Tendenz von Unternehmen, ältere Arbeitskräfte aus Kostenüberlegungen freizusetzen. Mitarbeiter werden oft vor die Alternative gestellt, bei guten Bezügen in Frühpension zu gehen, oder per Änderungskündigung auf den Grundgehalt zurückgestuft zu werden. Auf diese Art werden Lasten der Unternehmen auf die Öffentlichkeit übertragen, zugleich aber mit allem politischen Nachdruck darauf hingewiesen, dass die Pensionen mittel- und langfristig nicht mehr finanzierbar sind.
Welchen Reformbedarf sieht die OECD im Fiskalbereich?
Der Österreich-Bericht regt eine "steuerliche Entlastung der Arbeit" beim Arbeiter und Angestellten an. Diese hatten am Produktivitätszuwachs der letzten sechs Jahre keinen angemessenen Anteil. Die Zuwächse sind in Österreich und einigen anderen Ländern überwiegend der Unternehmer- und Kapitalseite zugefallen. Das kommt auch in der Entwicklung der Unternehmensgewinne und Managereinkommen deutlich zum Ausdruck. Daher regt die OECD eine Überprüfung der Steuern auf Kapital und Vermögen an, wobei die Vermögensbesteuerung nicht unbedingt im alten, tradierten Sinne erfolgen muss; auch eine Besteuerung des Produktionsfaktors Kapital wäre denkbar. Empfohlen wird ferner die qualifizierte Neustrukturierung der Erbschafts- und Schenkungssteuer. Eine Abschaffung erachtet die OECD als nicht zielführend.
Österreich soll laut OECD den öffentlichen Dienstleistungssektor deregulieren. Ist das Prinzip der flächendeckenden öffentlichen Daseinsvorsorge mit der marktwirtschaftlichen Rentabilitätsmaxime vereinbar?
Die Rentabilitätsmaxime sollte nicht das Maß aller Dinge sein. Gerade bei der Daseinsvorsorge gibt es Grundleistungen, die ein Gemeinwesen flächendeckend sicherstellen soll, aber nicht zwingend selbst erbringen muss.
Dresden hat 2006 den gesamten städtischen Wohnungsbestand an einen US-Investor verkauft. Dient das Instrument der Privatisierung nicht oft einfach nur der Schuldentilgung?
Dresden folgt damit einem Trend, den es auch in Österreich gibt, wo gemeinnützige Wohnungsgenossenschaften zum Verkauf gelangt sind. Duisburg ging noch weiter und hat alle Wirtschaftsunternehmen privatisiert oder verkauft. Die Stadt ist dadurch schlagartig schuldenfrei geworden. Wenn Kommunen keine Betriebe mehr haben, machen sie auch weniger neue Schulden. Ob über all der Mühe, schuldenfrei dazustehen, nicht doch wesentliche Gemeinwohlverluste in Kauf genommen werden, ist aber noch nicht wirklich ausdiskutiert.
Wie beurteilt die OECD die jüngste Investitionspolitik einiger Länder, sich via Staatsfonds massiv in Schlüsselindustrien einzukaufen?
Sowohl der Einfluss der Staatsfonds als auch der Hedgefonds und Private-Equity-Fonds wird OECD-intern heftig diskutiert. Nehmen wir ein Beispiel an: China kauft die Voest, um die Entwicklung der chinesischen Stahlindustrie sicherzustellen, danach die Voest eventuell stillzulegen und das Know how abzuziehen. Ob man sich gegen solche Übernahmen als Staat wehren kann/darf/soll, dazu gibt es in der OECD noch keine abgeklärte Meinung. Frankreich wehrt sich offen, andere Staaten weniger, denken aber genauso. Gegenüber den Staatsfonds herrscht eine gemeinsame Haltung vor: äußerste Vorsicht! Bei den privaten außerbörslichen Beteiligungsfonds besteht das Problem, dass deren wahrer Zweck nicht transparent ist und keiner vorhersehbaren wirtschaftlichen Logik entspricht. Investitionen, die über den Kapitalmarkt erfolgen, sind kaum zu regulieren, solange die Börse als Idealform des freien Marktes und der Deregulierung gilt.
Wenn Sie die Leistungen der OECD in den letzten 20 Jahren betrachten: In welchen Sektoren hat diese Organisation am meisten bewegt, und wo warten die größten Herausforderungen?
Am meisten bewegt hat sie sicher in der Gestaltung einer Ordnung, die von möglichst vielen Ländern anerkannt und eingehalten wird. Im Umgang mit den OECD-Ländern ist in Rechtsfragen und Verhaltensnormen eine große Sicherheit gegeben, hier kann ein Investor oder Markteilnehmer weitestgehend von einer gemeinsamen Wirtschaftskultur ausgehen. Der OECD-Wirtschaftsraum ist in sich gefestigt, hier werden gemeinsame Regeln gestaltet. Die Ausweitung dieses gemeinsamen Ansatzes, die Heranführung weiterer Länder an die OECD - ohne sie gleich in die Mitgliedschaft aufzunehmen -, wird die harte Arbeit der kommenden Jahre sein.
Erfolge der letzten 20 Jahre sind die Ostöffnung sowie die Aufnahme von Ländern wie Mexiko oder Südkorea, die früher als Mitglieder der "Gruppe 77" (Entwicklungsländer) eher als Gegenpartei gesehen wurden. Wichtig ist auch die Aufnahme intensiver Beziehungen mit den großen Wirtschaftsmächten. Es ist ein sehr gutes Zeichen für eine Organisation, wenn die gemeinsame Arbeit nicht nur zu einer Vertiefung, sondern auch zu einer Disziplin in der Zusammenarbeit führt.
Ulrich Stacher wurde 1942 in Aspang am Wechsel geboren. Nach dem Studium der Volks- und Betriebswirtschaft an der Hochschule für Welthandel in Wien arbeitete er in der Kammer für Arbeiter und Angestellte in Wien. Schon während des Studiums widmete er sich intensiv den Problemen der Dritten Welt. Von 1968 bis 1970 lehrte und forschte er am Zentrum für Wirtschafts- und Sozialstudien in Burkina Faso. In den Folgejahren war er in leitender Position am Wirtschafts- und Sozialforschungsinstitut in Antananarivo, Madagaskar, tätig, ferner als Forschungsbeauftragter an der Universität von Dar es Salaam in Tansania und als Wirtschaftsberater der Regierung Kenias.
Nach fast zehn Jahren Forschungs- und Entwicklungsarbeit in Afrika kehrte Ulrich Stacher 1977 nach Österreich zurück und stand ab 1979 der Abteilung für Programme und Projekte der Entwicklungszusammenarbeit im Bundeskanzleramt vor. 1987 übernahm er die Leitung der Sektion IV (Angelegenheiten der wirtschaftlichen Koordination und europäischen Integration) des Bundeskanzleramts. 2003 wurde Ulrich Stacher zum Botschafter bei der OECD berufen und leitet seither die Ständige Vertretung Österreichs bei der OECD in Paris.
Die OECD (eine 1961 gegründete Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) ist eine zwischenstaatliche, wirtschaftspolitische Organisation mit Sitz in Paris. Sie zählt 30 Mitgliedsländer, Österreich gehört zu den Gründungsmitgliedern. Ziele der OECD sind die Optimierung der wirtschaftlichen Entwicklung und die Sicherung des Lebensstandards in den Mitgliedstaaten, ferner die Förderung des Wirtschaftswachstums in den Entwicklungsländern und der Ausbau des globalen Handels. Die regelmäßigen OECD-Studien ("Pisa", Migration, Beschäftigung, Umwelt, Finanzmärkte, Technologie u.v.a.) stellen Ländervergleiche an, zeigen Fehlentwicklungen auf und bieten Problemlösungen an.