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"Ultrapatriotismus ist undenkbar"

Von Stefan Beig

Politik

Der deutsche Politologe Manfred Brocker spricht in Krems über Islam, Religionsfreiheit und die Politik der Angst. | "Die Religion war nie ganz verschwunden." | "Wiener Zeitung": Ist mit der Islamdebatte die Religion wieder in die Politik zurückgekehrt? | Manfred Brocker: Ich glaube nicht, dass sie vorher ganz verschwunden war. In Europa dominieren säkulare Gesellschaften, weltweit nicht. Terrorismus und politischer Islam haben uns die Brisanz der Religion wieder ins Bewusstsein gebracht, vor allem in Europa, wo sich die Kirchen in den letzten Jahrzehnten den Spielregeln demokratischer Ordnung angepasst haben. Doch bei Abtreibung oder bioethischen Fragen melden auch sie sich zu Wort.


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Ist die Einmischung der Religion problematisch?

Überzeugte säkulare Liberale wollen die politische Sphäre von Religion völlig frei halten. Ihr Argument ist: Wenn Verfassungsrichter religiös begründete Entscheidungen fällen, sind ihre Urteile nicht allgemein zustimmungsfähig. Andererseits gilt die Religionsfreiheit. Demnach kann man von religiösen Menschen keine Übersetzungsleistungen für den säkularen Staat verlangen, auch nicht im Polit-Diskurs.

Stellt die Organisation des Islam den Staat vor Herausforderungen?

Das hängt vom Staat-Kirche-Verhältnis ab, das je nach Land sehr verschieden ist. In Deutschland und Österreich ist es kooperativ und institutionell. Hier steht man vor einem größeren Problem. Das Grundgesetz spricht in Deutschland Religionsgemeinschaften das Recht auf Religionsunterricht an öffentlichen Schulen zu. Wegen des Gleichheitsgrundsatzes gilt das auch für den Islam. In Frankreich und den USA gibt es diese Kooperation nicht. Zwar ist gerade in den USA die Religion sehr vital und spielt in der Politik eine große Rolle, aber beide Bereiche sind strikt getrennt. In staatlichen Schulen gibt es keinen Religionsunterricht.

Gelebte Religiosität fordert also teils auch den Staat.

In einer multikulturellen Gesellschaft müssen alle gleich behandelt werden. Ein Beispiel für die muslimische Minderheit ist die gesetzliche Anerkennung des Schächtens oder die Forderung nach islamgerechter Bestattung. Nicht berücksichtigen sollte man die Forderung von Islamisten und Multikulturalisten nach der zivilrechtlichen Einführung der Scharia, denn die widerspricht dem Grundgesetz. Demnach bekommen Frauen etwa im Erbfall nur die Hälfte des Mannes, auch können sie nicht aus sich heraus eine Scheidung verlangen. In Deutschland hat die Organisation Milli Görüs solche Forderungen öfters erhoben. Liberale Gesellschaften müssen prüfen, wie weit sie bei der Religionsfreiheit gehen können. Die Religionsfreiheit darf nicht den Menschenrechten und den Rechten anderer Bevölkerungsgruppen widersprechen.

Belastet den Polit-Diskurs die Islamisierung des Integrationsthemas?

Die Islamisierung des Migrationsdiskurses erleben wir in vielen Teilen Europas. Bei uns waren türkische Zuwanderer in den 60er und 70er Jahren Gastarbeiter, später wurden sie Ausländer mit bestimmter ethnischer Zugehörigkeit, und in den letzten 15 Jahren wurden sie zu Muslimen. Ich glaube, viele Akteure haben hier auch eine Rolle gespielt, etwa politische Kräfte in der Türkei, die dahin drängten, dass sich Türken als Muslime sehen. Das gilt für Milli Görüs. Andererseits spricht das rechtskonservative Lager das Thema zunehmend so an.

Wird das der Realität gerecht?

Die erste und zweite Generation muslimischer Zuwanderer haben sich primär als Türken oder Marokkaner gesehen. Die dritte Generation versteht sich verstärkt über ihre Religionszugehörigkeit. Sie entdeckt - auch wegen der Erfahrung von Entwurzelung und als Fremde behandelt zu werden - den Islam als Identität. Man soll aber nicht übersehen, dass wir von Minderheiten reden. Viele sehen sich nicht primär als Muslime.

Verursacht die zunehmende Religiosität der Muslime auch gesellschaftliche Spannungen?

Sicher ist es paradox, dass in einer zunehmend säkularer werdenden Gesellschaft die islamische Minderheit religiöser wird. Solange die Gründe der Säkularisierung noch nicht genügend erforscht sind, halte ich es für fraglich, ob diese Entwicklung bei den Muslimen anhalten wird. Ein Faktor dürfte sein, dass über den Sozialstaat Lebensrisken abgebaut werden. Aber es gibt latent vorhandene Spannungen, die bei symbolischen Fragen wie dem Moscheenbau an die Oberfläche kommen. Auch Politiker wollen damit Stimmen mobilisieren. Hier sollte man alles tun, um deutlich zu machen, dass es selbstverständlich ist, dass alle gleichberechtigt sind.

Eine Herausforderung dürfte die Stiftung von Einheit in der Vielheit zu sein. Die USA erreichen anscheinend leichter ein gemeinsames Zusammengehörigkeitsgefühl.

In den USA hat man die Staatsbürgerschaft, sobald man dort geboren wird. Fremde werden nicht als Fremde wahrgenommen, weil jeder von irgendwo hergekommen ist. In Deutschland wurde hingegen die Blutzugehörigkeit nie ganz aufgegeben. Deutscher zu sein - das wird damit signalisiert - ist eine privilegierte Angelegenheit. Ich bin für eine Reform unseres Modells, nicht für eine Übernahme des US-Modells.

Die Stiftung von Zusammenhalt gelingt in den USA über die Zivilreligion. Diese Möglichkeit stellt sich für Deutschland und Österreich nicht, weil die dafür nötigen Symbole von der NS-Vergangenheit verunglimpft worden sind. Die Fahne und die Bedeutung des Präsidentenamts sind in den USA ganz zentral. Der Präsident eint das Volk, teils mit stark religiösen Aussagen in seinen Reden. Ein Ultrapatriotismus ist bei uns undenkbar, der von Jürgen Habermas vorgeschlagene Verfassungspatriotismus etwas kühl. Diese schwere Fragen wird man europaweit diskutieren müssen.