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"Um Druck auf Türkei auszuüben, müssen wir fair sein"

Von Martyna Czarnowska

Europaarchiv
Nationale Referenden über einen EU-Beitritt der Türkei sind für Flautre eine gefährliche Idee. Eine europaweite Abstimmung jedoch lehnt sie nicht ab. Foto: ap

EU-Abgeordnete Helene Flautre will von Union gerechten Umgang mit Ankara. | Neue Verfassung entscheidend für die Türkei. | "Wiener Zeitung": Frankreich aber auch Österreich haben angekündigt, ein Referendum über einen möglichen EU-Beitritt abzuhalten. Was halten Sie davon?


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Helene Flautre: Ich halte das für keine gute Idee, keine europäische Idee. Wir müssen nämlich an die Zukunft Europas denken, über unser aller Zusammenleben. Diese Frage auf nationaler Ebene zu stellen, bringt sie in ein schiefes Licht. Wieso sollte ein einziges Land - und warum sollte es nicht Estland sein - darüber entscheiden, ob die Türkei EU-Mitglied wird? Das wäre doch verrückt. Es ist eine populistische und gefährliche Idee.

Ein Referendum auf europäischer Ebene wäre besser?

Wir könnten uns darüber zumindest Gedanken machen. Wir sollten uns generell über die Entwicklung der EU Gedanken machen - egal, ob sie mit der oder ohne die Türkei passiert. Das sollte aber auf europäischer Ebene geschehen. Es sollte nicht jedes Land sein nationales Süppchen kochen.

Also eine europaweite Abstimmung?

Warum nicht? Aber warum über die Türkei und nicht über andere Länder? Weil die Türkei ein muslimisches Land ist oder ein großes? Wir könnten auch umgekehrt die Menschen in den EU-Staaten fragen, ob sie Teil einer Union mit der Türkei sein wollen. Sie könnten ja genauso gut für ihren Austritt aus einer solchen EU stimmen.

Referenden in anderen Ländern sind aber kaum eine Motivation für die Türkei, sich weiter zu demokratisieren. Welchen Druck kann die EU sonst ausüben?

Um Druck ausüben zu können, muss sie zunächst fair sein. Wir müssen ernsthaft Verhandlungen führen. Wir wissen nicht, wie sie ausgehen, ob die Türkei alle Bedingungen erfüllen wird. Aber die EU muss sich an ihre eigenen Entscheidungen halten. Und sie hat beschlossen, Gespräche über einen Beitritt der Türkei zu führen. Wenn die EU dieses Abkommen bricht, könnte sie doch auch etwa den Vertrag über die Währungsunion brechen.

Dennoch sind viele Europäer skeptisch gegenüber der Türkei. Was können Sie dagegen tun?

Wenn wir kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die Frage gestellt hätten, ob Deutsche und Franzosen eine gemeinsame Union formieren wollen, wäre die Antwort Nein gewesen. Deswegen ist es schwer vorherzusagen, wie sich die Einstellung zur Türkei entwickeln wird. Es ist aber normal, skeptisch zu sein, wenn die Menschen unsicher sind über ihre eigene Zukunft. Doch wir müssen zunächst einmal unsere Unterschiedlichkeit anerkennen, auch ohne die Türkei. Es gibt schon jetzt mehr Muslime in Europa als etwa Holländer.

Aber genau das macht vielen Menschen Angst: diese Unterschiedlichkeit, die Andersartigkeit.

Doch das macht das Leben aus, die gesamte Menschheit. Keine Gesellschaft ist völlig einheitlich, konnte ohne Einflüsse von außen auskommen. Ohne das wären wir ein weißes, übersättigtes, altes Europa. Wir müssen mit rationalen Argumenten zeigen, dass die Türkei unser Leben in der EU verbessern könnte. Zumindest würden wir unsere eigene Vielfalt anerkennen.

Auch die Türkei hat Probleme damit, ihre Vielfalt anzuerkennen. Das zeigt sich etwa im Umgang mit Minderheiten.

Diese Schwierigkeiten muss sie lösen, genauso wie wir Europäer eine Lösung für unsere Probleme finden müssen. Andere dafür verantwortlich zu machen, ist nicht der richtige Weg.

Heißt das, die EU kann nur zusehen, wie sich die Türkei entwickelt, und keinen Einfluss darauf nehmen?

Die EU hilft der Türkei sehr wohl. Der Verhandlungsprozess mit der Union hat viel zu den Verbesserungen im Land beigetragen. Die Türkei von heute ist keine Türkei der Militärcoups mehr, kein Polizeistaat mehr. Die Menschen sind freier als früher.

Von einer stabilen Demokratie ist die Türkei trotzdem noch ein Stück entfernt.

Wahrscheinlich könnten einige EU-Staaten der Union ebenso wenig beitreten, in dem Zustand, in dem sie sich derzeit befinden. Ich denke da etwa an die Einschränkungen der Medienfreiheit in Italien oder den Rassismus in den Niederlanden. Demokratie ist nichts Beständiges, sie muss immer wieder gestärkt werden. Die Frage ist immer, ob es in einem Land genug Werkzeuge dafür gibt.

Gibt es die in der Türkei?

Die geplante neue Verfassung - für die so viele Gruppen plädieren - wird dabei entscheidend sein. Es wird der springende Punkt sein, ob die Türkei es schafft, einen gesellschaftlichen Konsens für ein demokratisches Gesetz zu finden. Wenn Menschen imstande sein werden, Institutionen anzurufen, um ihre Rechte einzufordern, wird schon viel erreicht sein.

Vielleicht wird es dann heißen: "Wozu brauchen wir überhaupt noch die EU?" Auch in der Türkei selbst wächst nämlich die Skepsis über einen Beitritt. Falls sie auf eine Mitgliedschaft verzichtet - wer würde mehr verlieren: sie oder die EU?

Beide würden verlieren. Es müsste nicht das Ende der Geschichte sein, aber wir würden eine aufregende Chance vertan haben, in einen neuen Dialog mit der Welt zu treten. Mit der Türkei könnten wir neue Beziehungen zum Nahen Osten bekommen und die Spannungen zwischen West und Ost abbauen. Es wäre ein Signal für den Frieden.

Die französische Grün-Politikerin Helene Flautre ist Vorsitzende des EU-Türkei-Ausschusses im Europäischen Parlament. EU rügt Politzwist im Mittelmeer