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Um jeden Preis Flagge zeigen

Von Alexander Dworzak

Politik

Nordirlands Parteien scheitern vorerst bei Verhandlungen.


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Belfast/London. Seit 1906 zählte der Union Jack zum Inventar von Belfasts Rathaus. Gut sichtbar wehte die britische Flagge täglich auf dem neobarocken Gebäude in der nordirischen Hauptstadt und symbolisierte die Zugehörigkeit Nordirlands zu Großbritannien. Im Dezember 2012 zog der Belfaster Stadtrat mit den Stimmen der katholisch-irischen Parteien und der überkonfessionellen Alliance-Party den Union Jack vom Gebäude ein; er soll nur mehr an 17 Tagen im Jahr gehisst werden. Ausschreitungen mit mehreren hundert Verletzten waren die unmittelbare Folge. Pro-britische Demonstranten bewarfen die Polizei mit Flaschen, Steinen, Brandbomben und Feuerwerkskörpern. Büros der Alliance-Party wurden angegriffen, Politiker bedroht und einer Abgeordneten wurde eine Brandbombe in ihre Wohnung geworfen.

Zwar ebbte die Gewalt ab, doch bis heute zanken die Parteien in Belfast um eine endgültige, für Katholiken und Protestanten tragbare Lösung. Selbst der Schlichter von außen scheiterte: Der aus den USA zu Hilfe gerufene Ex-Diplomat Richard Haass musste zu Jahreswechsel eingestehen, dass seine Mission erfolglos war. Sechs Monate am Verhandlungstisch brachten die Konfliktparteien zwar näher, sie erzielten aber keinen Durchbruch im Flaggenstreit. Auch beim künftigen Ablauf der Paraden protestantischer Orden wurde keine Lösung erzielt. Brisant ist am 38-seitigen Textentwurf von Haass auch die Passage, wie mit Straftaten, die während der ab 1972 eskalierenden Gewalt verübt wurden, umgegangen werden soll. Im Raum steht, eine Wahrheitskommission einzurichten. Sie könnte jenen, die für Gewaltakte mit Todesfolge verantwortlich waren, ermöglichen, dort auszusagen.

Die irisch-republikanischen Parteien Sinn Féin und die Social Democratic and Labour Party (SPLP) signalisierten Zustimmung zu Haass’ Entwurf, der am Mittwoch auch im Internet veröffentlicht wurde, um Druck für das Abkommen zu erzeugen. Bedenken meldeten aber die zwei unionistischen Parteien Democratic Unionist Party und Ulster Unionist Party an, auch die Alliance-Party wollte Änderungen. "Enttäuscht" nahmen Großbritanniens Premier David Cameron und sein irischer Amtskollege Enda Kenny das Scheitern der Gespräche zur Kenntnis. Kenny sagte, die irische Regierung werde weiter mit London und dem Regionalparlament in Nordirland zusammenarbeiten, um Frieden zu schaffen. Und beide forderten Nordirlands Parteien auf, den Friedensprozess voranzutreiben. Auch das US-Außenministerium machte aus seiner Enttäuschung keinen Hehl.

Viel Zeit und Geduld hat Richard Haass in die nun geplatzte Einigung investiert. Bereits von 2001 bis 2003 vermittelte er im Auftrag des damaligen US-Präsidenten George W. Bush in Nordirland. Sichtbar enttäuscht gab er nun das zwischenzeitliche Scheitern bekannt, übte sich aber in Zweckoptimismus: "Wir haben eine gemeinsame Basis für künftige Diskussionen gelegt. Warten wir ab, wie die Situation in sechs Monaten oder einem Jahr aussieht." Doch angesichts der Lokalwahlen in Nordirland im Mai könnten die Parteien eher an der Schärfung ihres Profils als dem Erzielen von Kompromissen interessiert sein.

Große soziale Kluft

Bis auf Weiteres bleibt Nordirland somit, was es bereits in den vergangenen Jahren war: ein Territorium, über das es zwar ein stabiles Friedensabkommen zwischen Großbritannien und Irland gibt (siehe Kasten). Aber nach Jahrzehnten der gegenseitigen Animositäten sind die aufgebauten Mauern in den Köpfen noch längst nicht eingerissen - extremistische Splittergruppen machen sich das fragile politische, soziale und wirtschaftliche Gefüge in Nordirland zu nutzen. Das Schulsystem ist segregiert, die Armutsquote unter Protestanten liegt bei 19 Prozent, und gar jeder vierte katholische Nordire ist davon betroffen.