Raphael M. Bonelli über männlichen Narzissmus und über Donald Trump, einen vermeintlichen Narzissten wie aus dem Lehrbuch.
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Narzissten leben in ihrer ganz persönlichen Fantasiewelt, in der sie vor allem von sich selbst begeistert sind. Ihre Handlungen sind gemeinhin realitätsfremd und weichen von der Norm ab. Narzissmus ist ein gesellschaftliches Problem, auch wenn es auf den ersten Blick nicht als solches erkennbar ist.
Die Psychoanalyse hat sich in den letzten 100 Jahren mit diesem Phänomen – teils theorielastig – beschäftigt. Bodenständiger und alltagstauglicher wird die Diskussion mit der Arbeit des Wiener Psychiaters Raphael M. Bonelli.
"Wiener Zeitung": Sie haben ein Buch über "Männlichen Narzissmus" geschrieben. Würde ein klassischer Narzisst Ihr Buch lesen?
"Raphael M. Bonelli": Er würde es nicht lesen, außer er hat intellektuelles Interesse am Autor. Aber er würde nicht sagen: "Ups – das bin ja ich." Dieser Aha-Effekt ist schon Teil der Therapie. Einen klassischen Narzissten gibt es nicht, dieser wäre eine Abstrahierung, eine Utopie. So etwas Radikales existiert nicht. Jeder hat einen Anteil in sich, der eine weniger, der andere mehr. Dort wo der Narzisst nicht Narzisst ist, ist seine Chance zur Gesundung. Wenn er erkennt, dass er offensichtlich ein Problem mit Menschen hat, weil er sie immer runtermacht, dann könnte er vom Buch profitieren.
Paracelsus wusste bereits: "Dosis facit venenum" - Die Dosis macht das Gift.
Man muss hier klarstellen: Auch ein bisschen davon ist ein Problem. Narzissmus ist nie gut und aus meiner Sicht immer ein Problem in der interpersonellen Kommunikation, in der Begegnung mit anderen Menschen. Es gibt eine Selbstliebe, die gut ist, und eine, die nicht mehr gut ist. Die kippt dann ins Narzisstische. Hier hat die alte philosophische Tradition nach Rousseau die Unterscheidung zwischen Selbstliebe und Eigenliebe eingeführt. Die finde ich genial. Dieses "zu sehr auf sich Schauen", wie Sigmund Freud es ausdrückt, ist etwas, das die Narzissten ausmacht.
Hat man als Laie eine Chance, ihn in der Gesellschaft auszumachen?
Man kann ihn am besten erspüren in der libidinösen unbändigen Begeisterung über sich selbst. In der Praxis sieht das so aus, dass er zu mir kommt und von sich erzählt, als wäre er frisch verliebt. Als würde er über seine Braut reden. Er ist für sich besonders. Wie Sigmund Freud sagte: Er nimmt die Libido vom Objekt, dem Mitmenschen, seiner Partnerin beispielsweise, weg und richtet sie erneut auf sich selbst.
Die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft (APA) arbeitet mit neun Diagnosepunkten der narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Sie postulieren drei.
Bei mir sind es Selbstidealisierung, Fremdabwertung und Selbstimmanenz: Er macht sich selbst zum Ideal und ist begeistert von allem, was mit dem Ich in Zusammenhang steht. Was man ist, was man war, was man sein wird. Der Narzisst sagt: "Mein Fußballklub ist toll, weil er meiner ist. Meine Kinder sind toll, weil sie meine sind." Diese Selbstidealisierung lässt keine Korrektur zu. Die Fremdabwertung ist ein logischer Schritt, denn wer sich selbst idealisiert, muss andere abwerten. Diese hat unheimlich viele Facetten, das Manipulative und das Ausnützerische. Die meisten klinischen Kriterien betreffen die Fremdabwertung. Und schließlich die Selbstimmanenz. Der Mensch bleibt in sich selbst stecken. Viktor Frankl meinte, der Mensch braucht ein Ziel, einen Sinn, der über ihn selbst hinausgeht. Jemand, der sich für etwas begeistern kann, ist psychisch gesünder. Robert Cloninger hat dies neurowissenschaftlich bestätigt. Gesund und krank, frei und unfrei, beziehungsfähig und beziehungsunfähig unterscheidet sich durch diese Selbsttranszendenz. Es geht hier um höhere Werte und nicht um ständige Selbstidealisierung.
Wo liegt das eigentliche Drama des Narzissten?
Dass er nicht liebesfähig ist. Ein Narzisst sieht den anderen als Sprosse und nicht als Menschen auf gleicher Augenhöhe. Er wirkt quälend auf seine Umwelt, weil er den anderen nicht großwerden lässt: "So groß wie ich könnt ihr gar nicht werden." Die "Nummer Eins" in seinem Weltbild ist er selbst. Dabei umgarnt er sehr wohl den anderen. Im Gegensatz zum Autisten: Der geht an der Chance seines Lebens vorbei. Der Narzisst aber findet auf einer Party den Wichtigsten und sagt: "Wir beide machen jetzt was miteinander." Wahrscheinlich ist Donald Trump auf diese Weise groß geworden.
Wir haben in den letzten Monaten gewissermaßen gelebten Narzissmus auf der Bühne der Weltpolitik mitverfolgt. Hat Donald Trump schlussendlich von seinem Gehabe profitiert?
Die Erfolgreichen sind Ausnahmeerscheinungen. Viele Narzissten scheitern und fallen auf die Nase, weil sie zu dick aufgetragen haben. Gerade bei Trump hatte die American Psychiatric Association während des US-Präsidentschaftswahlkampfes erneut vor Ferndiagnosen gewarnt. Natürlich fällt es schwer, bei ihm die Diagnose nicht zu stellen. Doch war er nicht auf meiner Couch. Aus diesem Grund kann ich es nicht sagen, auch nicht im Nachhinein. Vielleicht war das ja alles nur Masche und Berechnung, das geht und ging in Amerika ausgesprochen gut. Aber: Wir haben ihn in den letzten Monaten ja auch straucheln gesehen. Anscheinend hat er aber einen Volltreffer gelandet.
Wie sehen Sie das bei Hillary Clinton, seiner ehemaligen Konkurrentin, deren Traum zerplatzt ist?
Auch sie war nicht bei mir in Behandlung. Doch sehe ich bei ihr ähnliche Züge. Beide kreisten bei ihren Auftritten um sich selbst. Sie zeigte aber mehr kaltes Kalkül und kippte teilweise in die Perfektionistenfalle. Bei Frauen besteht eher diese Gefahr. Aber: Doppelt so viele Männer als Frauen sind Narzissten. Der Unterschied: Ein Perfektionist hat kein Charisma. Er ist unecht und durchaus angstvoll ("Bin ich gut genug?"), hat eine Maske auf und ist berechnend. Der Narzisst hingegen ist charismatisch, emotional und zeigt, wie er wirklich ist. Das ist den Leuten irgendwie sympathisch. Wo der Perfektionist angespannt wirkt, genießt der Narzisst hingegen das "Schauen Sie mich an". Viele sagten ja im Wahlkampf, "Hillary ist das kleinere Übel". Ich denke schon, dass viele Hillary gewählt haben, um Trump zu verhindern. Aber wenige argumentierten: "Hillary ist die Beste." Das Ergebnis haben wir seit dem 9. November vorliegen.
Ein Trump, ein Erdogan, ein Putin genügen sich selbst.
Man sollte diese Diskussion unbedingt von diesen doch erfolgreichen Politikern loslösen. Keiner von ihnen wird sich auf den Weg der Läuterung begeben. Sie sind beratungsresistent, auch wenn sie immer wieder anecken und für Empörung sorgen. Teamgeist gilt hier als Fremdwort.
Ein brillanter Teamplayer auf dem Rasen ist Cristiano Ronaldo. Wie schätzen Sie ihn ein?
Hätte Ronaldo eine Lehre gemacht, wäre er sicher nicht so geworden. Wenn man ein genialer Fußballer ist, ist die narzisstische Versuchung groß und die muss bedient werden. Ronaldo macht aus seinem Herzen keine Räuberhöhle, er lebt seine Fantasien offen aus. Man muss grundsätzlich davon ausgehen, dass ab einem gewissen Bewunderungsgrad keine Bodenhaftung möglich ist.
Er ist in jungen Jahren, also mit 17 oder mit 18, in diese Falle getappt.
Ronaldo hat sich an den Erfolg gewöhnt und auch lange kein kritisches Feedback mehr bekommen. Er hingegen könnte schon eine neue Lebensphase eingeläutet haben. Wichtig ist es zu verstehen, dass wir alle Anteile haben. Das ist in uns drinnen. Es kommt auch vor, dass man in hohem Alter in narzisstisches Verhalten fällt.
Narzissmus, eine lebenslange Gefahr?
Ja, die Selbsttranszendenz fällt natürlich nicht immer leicht. Folgende Anekdote dazu: Ich habe den bekanntesten Paartherapeuten Europas Jürg Willi getroffen. Er ist einer, der mit Altersweisheit gesegnet ist. Bei dieser Gelegenheit habe ich ihn gefragt, warum er denn so normal geblieben ist. Er sagte, wegen meiner Frau, die relativiert dann alles wieder. Hier sehe ich eine ganz große Chance für den männlichen Narzissten. In ihren Frauen, wenn sie sich von ihnen noch erden lassen. Die, die es nicht schaffen, wundern sich, warum sie schon in der fünften oder sechsten Ehe stecken und noch immer nicht ihre Traumfrau gefunden haben. Ich muss hier immer an einen hierzulande bekannten Baumeister denken.
Narzissten scheitern also in ihren Beziehungen?
Natürlich. Sie wenden die Fremdbeschuldigung an: "Ich habe schon wieder eine blöde Frau geheiratet." Die Geschichten sind immer dieselben: Ein Mann, der seine Frau betrügt.
Der Narzisst sagt sich: "Eine Zeitlang machst du mir Spaß, dann kommen andere."
Ja. Der Narzisst bleibt nicht in der Beziehung. Treue und höhere Werte wie Familie kennt er nicht. Es geht immer nur um Selbstidealisierung, und er gibt auch schonungslos zu, dass es ihm nicht um das Gegenüber geht. Diese Männer suchen den Kick. Sie möchten eben dieses Gefühl wieder haben. Er denkt sich, die probiere ich einfach aus. Auf dieser Ebene ist Kooperationsfähigkeit nicht gegeben. Das ist das Prinzip des Ehebruchs. Man muss dazu sagen, dass viele ja ihre Frauen nicht verlassen. Sondern sich eine zum Kinderkriegen halten und eine andere für den Spaß. Dieses doch sehr abwertende Konkubinendasein wechselt sehr stark. Der Narzisst verspricht den Betroffenen je nach Laune: "Bald werde ich mich trennen und dann heirate ich dich."
Herr XY, nennen wir ihn Herrn Meier, muss ja auch etwas mitnehmen, um wieder neue Partnerinnen zu gewinnen. Wie macht er das?
Dieses übersteigerte Selbstwertgefühl blendet. Wenn Herr Meier einen Raum betritt, macht er das im Sinne von "Ich bin jetzt da." Also: "Jetzt ist wirklich wer da, nämlich ich." Er spielt das nicht, sondern ist wirklich so. Er ist kein Erzherzog Habsburg, sondern ein Herr Meier. Und er hat die Aura, weil sein Selbstwertgefühl nicht konstruiert, sondern authentisch ist. Damit lockt er Frauen an. Ich denke hier an den Fall eines Spargeltarzans, aus meiner Sicht nicht besonders hübsch, eher aus reichem Haus, da er etwas besser gekleidet war. Aber er ist selbstbewusst aufgetreten, mit lauter, männlicher Stimme. Ich habe mich natürlich gefragt, warum der so viele Frauen bekommen hat. Ein beeindruckendes Phänomen.
Wie sieht das aus im Falle eines Scheiterns?
Oft ist der Alltagsnarzisst ein gebrochener Mensch.Er schmollt in seiner Ecke und versteht nicht, warum er noch nicht Bundespräsident ist. Oder warum niemand seine Gedichte würdigt. Die aber leider in der Realität grottenschlecht sind.
Kann er das ausblenden?
Das ist der Unterschied zwischen den erfolgreichen und den gescheiterten. Ich kenne den Fall von einem, der von einem Bombengeschäft träumt und empört ist über die Blödheit der Menschheit, wenn es nicht funktioniert. Der erfolgreiche hingegen findet immer wieder Idioten, die ihn bewundern und bestätigen. Das ist nicht gesund.
Wie sieht es aus mit einem "Happy End"?
Der Alltagsnarzisst hat große Chancen auf Heilung, falls er erkennt, dass er nicht so sein will, wie er ist. Ich stelle ihm dann die Schlüsselfrage: "Wollen Sie so ein Mensch sein?". Das bewirkt etwas. Der Patient kann ja sehr wohl im Bauch narzisstische Gefühle verspüren, sich aber im Endeffekt mit dem Herzen entscheiden für ein "Das mach ich nicht" mit der Begründung "Es entspricht nicht meinen Werten". Wenn die Betroffenen das sprichwörtlich beherzigen, fangen sie an, anders zu handeln. Denn eine stete Eigenübung einer Handlung verändert eine Haltung.
Was könnte er in einer psychotherapeutischen Sitzung bei Ihnen erfahren?
Ich würde ihn zuerst innerlich durchscannen und das abspeichern, was ich wahrnehme. Danach kann ich erst eine therapeutische Beziehung aufbauen. In der ersten Stunde bekommt er normalerweise keine Diagnose und kein kritisches Feedback. Außer er will das unbedingt. Es ist natürlich eine Frage des Auftrags: Warum kommt jemand zum Psychiater? Ich hatte natürlich hier auch Narzissten sitzen, die begeistert von sich waren, wie sie das alles gelöst haben. Jedoch kommen normalerweise nur die Ehefrauen. Weil sie fürchterlich unter ihren Männern leiden. Und erzählen die Geschichten von jenen, die ich nie zu Gesicht bekommen habe und werde.
In welchen Berufen findet man Narzissten vorwiegend?
Ich würde sagen, egal wo und in welcher Schicht, trifft man auf unglaublich hohes Selbstwertgefühl. Beispielsweise in der niederen Schicht redet der Prolet über Proleten, die unter ihm sind. Dabei muss man sich fragen, wen meint er, wenn nicht sich? Abgesehen davon sind viele Politiker, Geschäftsleute, Schauspieler und Lehrer dabei. Denn da gibt es eine Bühne. Überall dort, wo man unhinterfragt seine Brillanz präsentieren kann und von vielen bewundert wird. Aber auch Journalisten, die schreiben und sagen, was sie wollen. Narzissten sind immer rücksichtslos. Eine Welt voller Narzissten wäre eine schreckliche. Und in so einer leben wir gottseidank nicht.
Zur Person
Raphael M. Bonelli, geboren 1968, ist Psychiater in Wien. Er ist Autor zahlreicher Bücher, unter anderem zum Thema Perfektionismus. Sein letztes Buch trägt den Titel "Männlicher Narzissmus. Das Drama der Liebe, die um sich selbst kreist".