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Umbruch in arabischer Welt - Israel verfällt in Schockstarre

Von Michael Schmölzer

Politik

Israel beharrt auf alten Standpunkten in Nahost-Konflikt. | Angst geht um, von Ereignissen in der Nachbarschaft überrollt zu werden. | Tel Aviv. Premier Benjamin Netanyahu demonstrierte am vergangenen Wochenende Härte: Man werde die Grenzen Israels schützen, die Hoheit des Landes mit allen Mitteln verteidigen - und man hoffe, dass rasch wieder Ruhe und Ordnung einkehrten.


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Davor war Unerhörtes geschehen; etwas, womit man in Israel zwar hatte rechnen müssen, was aber trotzdem für enorme Verwirrung sorgte: Tausende palästinensische Demonstranten hatten aus Syrien und dem Libanon kommend von Israel beanspruchtes Territorium gestürmt, Löcher in die Grenzzäune gerissen und Fahnen geschwenkt. Anlass der Aktion war Nakba, der "Tag der Katastrophe", der an die Staatsgründung Israels 1948 erinnert und der für die Palästinenser gleichbedeutend ist mit Niederlage, Vertreibung und Flucht.

Israel reagierte so, wie man es bei den Palästinenser-Aufständen in der Vergangenheit getan hat - mit Schüssen. 21 Menschen fanden den Tod.

Die Löcher in den Grenzzäunen sind mittlerweile gestopft, in Israel bleibt die Irritation. An schwer bewaffnete Hisbollah-Kämpfer im Libanon und Raketen aus dem Gaza-Steifen ist man gewöhnt, jetzt handelt es sich aber um Demonstranten, die von den Revolutionen im arabischen Raum mitgerissen wurden. Im Sog der Ereignisse in Tunesien, Ägypten, Libyen und Syrien organisieren sich Jugendliche seit Monaten über die verschiedenen sozialen Netzwerke, rufen zum Aufstand gegen Israel auf.

Dazu kommt, dass die Palästinenser im September dieses Jahres endlich ihren eigenen Staat gründen wollen - mit Hilfe der Generalversammlung der Vereinten Nationen und unter Umgehung Israels, das den Nahost-Friedensprozess in ihren Augen hartnäckig blockiert. Israel, wo ein Großteil der Bevölkerung durch die Erfahrungen des Holocaust traumatisiert ist, befindet sich angesichts dieser Entwicklung in einer Art Schockstarre. Die Angst geht um, der Ansturm aus den umliegenden arabischen Ländern könnte nur eine Generalprobe für den September sein, die Nachkommen von vor Jahrzehnten vertriebenen Palästinensern könnten Massenmärsche auf die Grenzen als neue Form des Widerstands kultivieren. Ältere Israelis fühlen sich an die vergangene Kriege erinnert, als das junge Land von allen arabischen Nachbarn gleichzeitig angegriffen worden war. Die Angst, überrollt zu werden, ist immer vorhanden, jetzt ist sie besonders groß. Israel reagiert, sagen Kritiker, wie die arabischen Despoten, die gestürzt werden: Mit Gewalt gegen Demonstranten und finanziellen Zuwendungen als letztem Ausweg.

Keine Zugeständnissefür Palästinenser

Während im arabischen Raum kein Stein auf dem anderen bleibt, sieht man in Israel keinen Bedarf an politischer Veränderung, Netanyahu pocht vehement auf alte Standpunkte. Einen entmilitarisierten Palästinenserstaat dürfe es nur nach Verhandlungen mit Israel geben, Israel werde seine Siedlungen im Westjordanland nicht aufgeben. Jerusalem müsse die ungeteilte Hauptstadt bleiben. Eine Rückkehr der 4,7 Millionen Flüchtlingen werde es nicht geben. Die palästinensische Einheitsregierung, die im Begriff ist zu entstehen (siehe unten) ist für Netanyahu in jedem Fall kein Verhandlungspartner: Mit der radikalislamischen Hamas, die im Gaza-Streifen herrscht und Israel nicht anerkennt, könne man prinzipiell nicht reden.