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Umbrüche im Nahen Osten

Von Stefan Haderer

Gastkommentare
Stefan Haderer ist Kulturanthropologe und Politikwissenschafter. Alle Beiträge dieser Rubrik unter: www.wienerzeitung.at/gastkommentare

Die angestrebte Neugründung Kurdistans im Nordirak könnte den Westen unter Zugzwang bringen.


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Mit der Rückeroberung einiger von den IS-Milizen eingenommen Hochburgen rückt ein Ende des Syrien-Krieges erstmals in absehbare Nähe. Der US-Plan, den syrischen Machthaber Bashar al-Assad zu stürzen, ist nicht aufgegangen. In den vom Konflikt stark betroffenen Nachbarländern Libanon und Jordanien hofft man bereits auf den Wiederaufbau vieler zerstörter Städte und die Rückwanderung zahlreicher Flüchtlinge. Auf Baufirmen wartet ein prosperierendes Geschäft, denn auch sie profitieren wie die Waffenlobbys von den Unruhen im Nahen Osten.

Inzwischen bahnt sich allerdings schon ein neues Problem an, das unmittelbar mit den Bürgerkriegen in Zusammenhang steht und die ganze Region zu gefährden scheint: Am 25. September sprachen sich in einem Referendum fast 93 Prozent der Kurden für eine Sezession vom Irak und die Neugründung eines souveränen Kurdenstaates im Nordirak aus.

Ironischerweise würde die Schaffung des Staates Kurdistan einer Karte entsprechen, die noch während der Amtszeit von US-Präsident George W. Bush skizziert worden sein soll und einen "Greater Middle East" darstellt. Darauf sind die Grenzlinien völlig neu gezogen. Auch Kurdistan scheint als neuer Staat auf und überdeckt weite Gebiete im Osten der Türkei, im Nordosten Syriens, im Norden des Irak und im Westen des Iran, wo die kurdische Bevölkerung besonders stark vertreten ist. Ist das nun eine Verschwörungstheorie oder doch ein bitterer Vorgeschmack auf künftige Auseinandersetzungen?

Fakt ist, dass sich Regierungschefs und Denkfabriken seit Jahren mit der Neuordnung Syriens und des Irak beschäftigen. Der Zugang zum Erdöl und nicht der Unabhängigkeitsanspruch der Menschen spielt dabei vordergründig eine Rolle. Zwischen der Regierung in Bagdad und der kurdischen Regionalregierung in Erbil ist es nach dem Referendum zu Spannungen, allerdings noch nicht zu einer Eskalation gekommen. Dies wird sich spätestens dann ändern, wenn der Westen klar Stellung bezieht.

Syrien, die Türkei, der Irak und der Iran bangen um ihre territoriale Einheit. Diese Länder haben sich zu einem seltsamen Schulterschluss entschieden, der alle Animositäten und Querelen der Vergangenheit verblassen lässt. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat sogar eine Militärintervention gegen die Kurden im Nordirak und eine Stilllegung der Öllieferungen in die Türkei angedroht. Vor diesem Hintergrund ist der stufenweise Ausbau seiner Macht möglicherweise erklärbar. Seine Feindschaft zu Assad erweist sich jedoch als folgenschwerer geostrategischer Fehler, den er wohl auf Druck der Nato begangen hat.

Noch zeigen sich die USA wegen ihrer Allianz mit der Türkei zögerlich, was die Unabhängigkeit der Kurden betrifft. Wegen der Gülen-Bewegung ist das Verhältnis Erdogans zu den USA jedoch sehr angespannt, sodass sich das Blatt in der Kurdenfrage wenden könnte. Sollte die EU hingegen grünes Licht für einen neuen Staat Katalonien geben, so käme sie womöglich bei der Kurdenfrage in Erklärungsnot. Denn eine einseitige Unabhängigkeitserklärung lehnt sie bisher strikt ab.