Nur mit Trippelschritten bewegt sich die EU hin zu Lösungen in der Flüchtlingskrise.
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Brüssel. An einem Tag waren es einmal 200 Menschen. So viele Flüchtlinge sind im Rahmen des EU-Umsiedlungsprogramms von Griechenland aus auf andere Mitgliedstaaten verteilt worden. Es war immerhin eine der Erfolgsmeldungen, die EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos zum "ersten Geburtstag" des Beschlusses zur Aufteilung von Schutzsuchenden verkünden konnte. Vor einem Jahr haben sich die Mitgliedstaaten - trotz des Vetos von Ungarn, der Slowakei, Tschechien und Rumänien - darauf geeinigt, bis zu 120.000 Asylwerber, vor allem Syrer, von Italien und Griechenland zu übernehmen.
Doch die Bilanz der Umsetzung dieser Entscheidung fällt auch zwölf Monate später mager aus, selbst wenn Avramopoulos mit dem Verweis auf die zweihundert Migranten eine positive Entwicklung ortet. Denn nach den Wünschen der Kommission sollten die EU-Staaten tausende Menschen aufnehmen - und das pro Monat. Die aktuellen Zahlen der Behörde sagen aber etwas anderes: Innerhalb eines Jahres wurden 1196 Asylwerber aus Italien und 4455 Flüchtlinge aus Griechenland umgesiedelt. Mehr als ein Drittel der Menschen nahm Frankreich auf.
Einmal mehr musste daher Avramopoulos bei einer Pressekonferenz in Brüssel den "politischen Willen" der Mitgliedsländer beschwören. Diese rief er nicht nur zur Aufnahme von Schutzsuchenden auf, sondern auch zur Entsendung von Grenzschutz- und Asylexperten nach Griechenland, wo die Ankommenden registriert werden müssen. Das könne das Land nämlich nicht allein schaffen, heißt es immer wieder aus Athen, wo neben finanzieller auch personelle Unterstützung gefordert wird. Statt hunderter Experten hätten die anderen Mitglieder nur ein paar dutzend Beamte geschickt, klagen Regierungspolitiker.
So appellierte der EU-Kommissar an die Solidarität. Diese sei für die Staaten immerhin nicht nur eine "moralische, sondern auch eine rechtliche Verpflichtung". Von einer "flexiblen Solidarität", wie sie Ungarn, Polen, die Slowakei und Tschechien seit einiger Zeit bewerben, ist Avramopoulos hingegen wenig begeistert. Die Kommission halte an ihrer Politik zur Verteilung von Flüchtlingen fest, befand er.
Widerspruch aus Ungarn
Damit will sich Ungarn freilich nicht abfinden. Am Sonntag findet dort ein Referendum statt, mit dem Premier Viktor Orban seine Landsleute befragen lässt, ob sie mit einer von der EU erzwungenen Aufnahme von Asylwerbern einverstanden sind. Und auch wenn die Kommission darauf verweist, dass es sich dabei um künftige gemeinsame Beschlüsse handelt, ist Budapest auch mit der Entscheidung zur Umsiedlung der 120.000 Menschen nicht zufrieden. Es hat dagegen - ebenso wie Bratislava - vor dem Europäischen Gerichtshof geklagt.
Allerdings ist es nicht nur Ungarn, das die - freiwilligen - Quoten zur Aufnahme von Asylwerbern nicht erfüllt. Keine einzige Umsiedlung hat es ebenfalls nach Polen sowie nach Österreich gegeben. Dieses ist derzeit jedoch von der Verpflichtung ausgenommen. Und auch andere Staaten hinken ihren eigenen Zusagen hinterher.
Trotzdem möchte die Kommission von "Fortschritten" sprechen, sowohl bei der Umsiedlung als auch bei der Umsetzung des EU-Abkommens mit der Türkei. Auch dazu legte Avramopoulos nämlich einen Zwischenbericht vor.
Erneut betonte der Kommissar die Wirksamkeit der Vereinbarung, mit der sich Ankara unter anderem zu verschärftem Grenzschutz sowie zur Rücknahme von Migranten ohne Anspruch auf Asyl in der EU verpflichtet hat. Nach Angaben der Brüsseler Behörde ist die Zahl der irregulären Einreisen in die Union über die Ägäis deutlich gesunken: auf durchschnittlich 85 Personen pro Tag, während es vor einem Jahr bis zu 7000 Menschen täglich sein konnten. In die Türkei zurückgeschickt wurden jedoch erst 578 Asylwerber.
Im Gegenzug haben EU-Staaten mehr als 1600 Syrer direkt aus der Türkei ausgeflogen, wohin mehr als zwei Millionen Menschen aus dem umkämpften Nachbarland geflohen sind. Für die Flüchtlingshilfe in der Türkei stellt die EU Geld zur Verfügung: Drei Milliarden Euro sollen in Projekte zur Unterbringung, Verpflegung, Gesundheitsvorsorge oder Bildung der Schutzsuchenden fließen. Bis jetzt wurden mehr als zwei Milliarden Euro mobilisiert.
Eingeschränkte Reisefreiheit
Die verstärkte Sicherung der Außengrenzen, der das EU-Türkei-Abkommen ebenfalls dienen soll, hat aber auch einen anderen Zweck zu erfüllen. Die Kommission nennt das Ziel: "Zurück zur Normalität des Schengen-Raums". Denn der Schutz des EU-Territoriums nach außen soll die Möglichkeit des Reisens ohne Passkontrollen innerhalb der Schengen-Zone gewährleisten. Wegen der Flüchtlingskrise haben jedoch fünf Länder das Recht auf Reisefreiheit vorläufig eingeschränkt: Österreich, Deutschland, Dänemark, Schweden und Norwegen haben Kontrollen an bestimmten Übergängen eingeführt.
Diese Ausnahmefälle seien den Vorschriften entsprechend genehmigt worden, stellte Avramopoulos fest. Daher habe die Kommission derzeit keinen Anlass, das zu bewerten. Das wird sich allerdings Mitte November ändern, wenn die sechsmonatige Frist für die Grenzkontrollen ausläuft. Die Kommission muss dann beurteilen, ob die Maßnahmen weiter verlängert werden können, wieder um sechs Monate. Das ist drei Mal möglich; die Einschränkungen könnten also bis zu zwei Jahre lang dauern.
Österreich hat - wie Deutschland oder Dänemark - bereits sein Interesse an einer Fortsetzung bekundet. Überprüfungen sind an den Grenzen zu Ungarn und Slowenien erlaubt. Für Kontrollen am Brenner gibt es hingegen noch keine Genehmigung.