Die Bevölkerung des französischen Überseegebietes Neukaledonien stimmt diesen Sonntag über eine Loslösung ab.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Am 4. November wird Frankreich erneut daran erinnert, dass es noch immer eine Kolonialmacht ist. An diesem Tag entscheidet sein pazifisches Überseegebiet Neukaledonien, ob es den letzten Schritt in die Unabhängigkeit wagt.
Auf Neukaledonien, mehr als 20.000 Kilometer entfernt von Paris im Südpazifik gelegen, leben rund 268.000 Menschen. Von älteren Volkszählungen ausgehend sind etwa 43 Prozent von ihnen melanesischer Herkunft, sie bezeichnen sich selbst als Kanak. Weitere 37 Prozent sind Europäer (Caldoches), die drittgrößte Gruppe sind Einwanderer aus Wallis und Futuna, einem ebenfalls französischen Überseegebiet, zwischen Fidschi und Samoa gelegen. Zudem leben in Neukaledonien noch Nachfahren asiatischer Herkunft. Die Hauptinsel ist seit 1853 französischer Besitz, ab 1864 wurde das Gebiet als Strafkolonie genutzt. In diese Zeit fiel auch die Entdeckung der bedeutsamen Nickelvorkommen; man schätzt, dass rund ein Viertel des weltweit für die Stahl- und Rüstungsindustrie wichtigen Metalls auf Neukaledonien liegt. Der daraufhin einsetzende Bergbauboom bestimmt die sozio-ökonomischen Zusammenhänge der Insel bis heute.
Die Erzlager befinden sich im von den Kanak bewohnten Nordteil der Insel im Landesinneren, die Verarbeitung, die Verwaltung und somit die bezahlten Arbeitsplätze hingegen an der Südküste rund um die Hauptstadt Nouméa. Durch den wachsenden Bergbau und den damit verbundenen radikalen Veränderungen verloren die Melanesier zunehmend ihr ursprüngliches Land und wurden in Reservate von weniger als zehn Prozent der Landfläche vertrieben, während der Zustrom europäischer und asiatischer Arbeitskräfte aus dem damaligen Indochina stark zunahmen.
1878 und 1917 gab es größere Aufstände der Kanak, die von Frankreich blutig niedergeschlagen wurden. Die französische Kolonialherrschaft markierte die Melanesier als "besonders unzivilisiert und rückständig" und stilisierte sie nicht, wie etwa die Bewohner von Französisch Polynesien, zu "schönen, edlen Wilden".
Sonderstatus als Überseegebiet
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hätte sich Neukaledoniens Lage verbessern sollen. Die Bewohner der damaligen Kolonien erhielten nämlich das Wahlrecht zur Nationalversammlung in Paris sowie die französische Staatsbürgerschaft in der Union Française. Neukaledonien bekam den Sonderstatus eines Überseegebietes (Territoire d’outre mer - TOM), faktisch und tatsächlich bestand die bisherige Kolonialverwaltung jedoch weiter, da alle Macht beim von Paris ernannten Gouverneur zentral verblieb.
Unter Präsident Charles de Gaulle wurde der Autonomiestatus 1958 sogar wieder aufgehoben, ein autoritäres Kolonialsystem sollte den Zugriff auf die wichtigen Nickelvorkommen sichern. Die verstärkte Arbeitszuwanderung marginalisierte zunehmend die Kanak-Bevölkerung, die zur Minderheit im eigenen Land wurde. Eine zwiespältige Rolle spielten dabei ausgerechnet Zuwanderer aus Wallis und Futuna. Sie fanden in Neukaledonien nur aufgrund ihrer französischen Personalausweise Arbeit. Daher hatten sie und ihre Nachkommen wenig Interesse an einer möglichen Unabhängigkeit und wurden so zu ungewollten Verbündeten der Caldoches - und zu Feindbildern für die Kanak. Die gemeinsame ozeanische Identität wurde von kurzfristigen ökonomischen Eigeninteressen verdrängt.
Kein Deal mit Autonomie
Mitte der 1970er erwachte langsam eine Art Unabhängigkeitsbewegung in Neukaledonien. Anfänglich kaum beachtet, hatte sich 1983 die Lage so zugespitzt, dass die französische Regierung unter Präsident François Mitterrand neukaledonische Gruppierungen zu Verhandlungen einlud und den Separatisten einen weitgehenden Autonomiestatus anbot. Teil dieses Angebots war auch ein mögliches Referendum.
Diesen Vorschlag lehnte die Anti-Unabhängigkeitspartei Rassemblement pour la Calédonie dans la République (RPCR) ab, und auch die Separatistenpartei Front de libération national, kanak et socialiste (FLNKS) war in der Folge dagegen. Frankreich hätte bei einem Referendum jedem französischen Staatsbürger das Stimmrecht zugestanden. Eine etwaige Autonomie rückte so in weite Ferne. Die Proteste flammten heftiger auf als zuvor.
Jahrelange bürgerkriegsartige Unruhen gipfelten am 22. April 1988 in der blutigen Ouvéa-Affäre: Militante Separatisten griffen auf der Insel Ouvéa einen Posten der französischen Gendarmerie an, vier Polizisten wurden getötet und weitere 27 als Geiseln in Höhlen verschleppt. Die damalige konservative französische Regierung reagierte, indem sie Spezialverbände einflog und die Höhlen stürmte. Zwei Geiseln starben, und alle 19 Aufständischen wurden getötet. Dabei gingen die Sicherheitskräfte äußerst brutal vor. Heute weiß man, dass Separatisten, die sich bereits ergeben hatten, kurzerhand exekutiert wurden. Die Affäre wurde zum landesweiten Politikum, da der Einsatz nur Tage vor der Präsidentenstichwahl stattfand und Jacques Chirac, dem konservativen Herausforderer, des Sozialisten Mitterand, helfen sollte. Doch der Winkelzug ging nicht auf, und Mitterand gewann die Stichwahl.
Ungeliebtes Abkommen
Diese blutigen Tage sollten zu einem Weckruf an die Politik werden. Die Führer der FLNKS und der RPCR konnten vom französischen Premier Michel Rocard zu Verhandlungen überzeugt werden, das Ergebnis waren 1988 die Abkommen von Matignon. Diese sahen zwar eine zehnjährige weitere Verwaltung von Neukaledonien durch Frankreich vor, doch währenddessen sollten staatliche Investitionen von etwa einer Milliarde Dollar vor allem in Infrastruktur und Bildung bewirken, das koloniale Erbe der sozialen Ungleichheit auszugleichen. Am Ende war ein Referendum über die vollständige Selbständigkeit vorgesehen. Da diese Abkommen einer Volksabstimmung in Frankreich unterzogen wurden, konnten deren Ergebnisse nicht mehr, wie früher bei einem Regierungswechsel, einfach widerrufen werden.
Zufrieden war zunächst keine der beiden Seiten - der Führer der Kanak-Partei FLNKS, Jean-Marie Tjibaou, wurde gar von einem militanten Separatisten ermordet. In den folgenden Jahren stilisierte die Regierung die Person Tjibaou als Identifikationsfigur einer gemäßigten Autonomiepolitik. Zehn Jahre danach, 1998, einigten sich alle Interessengruppen auf einen nochmaligen Aufschub des endgültigen Unabhängigkeitsvotums auf ein Datum in frühestens 15, aber spätestens 20 Jahren. Zunächst wurde 1998 nur über das neue Abkommen von Nouméa erfolgreich abgestimmt, das weitere Autonomierechte vorsah. Seither darf sich Neukaledonien in den meisten Bereichen selbst verwalten; ausgenommen bleiben die hoheitlichen Aufgaben Verteidigung, Polizei, Justiz, Außenpolitik und Geldwesen, die weiterhin von Frankreich wahrgenommen werden.
Wer darf abstimmen?
Einen Sonderfall stellt die Außenpolitik dar. Neukaledonien ist es erlaubt, Mitglied in Regionalorganisationen im pazifischen Raum zu werden. Auch darf die Autonomieregierung auswärtige Verträge und Abkommen eigenständig verhandeln - zum Ratifizieren ist dennoch die Unterschrift Frankreichs nötig. Seit 2003 ist Neukaledonien verfassungsrechtlich ein Collectivité sui generis, ein TOM mit besonderem Status. Laut Nouméa-Abkommen darf sich das Land nun identitätsstiftende Symbole selber geben: eine eigene Hymne, eine Flagge, ein Staatsmotto und eigene Designs der Banknoten (die Landeswährung ist der Pazifik Franc, der von Frankreich ausgeben wird und de facto mit einen fixen Wechselkurs an den Euro gebunden ist). Sogar ein neuer Name ist möglich, doch das angedachte Kanaky konnte sich bisher nicht durchsetzten.
Als spätester regulärer Termin für das Unabhängigkeitsreferendum wurde Ende November 2018 vereinbart. Die wichtigste Frage dabei ist, wer eigentlich abstimmen darf. Die Separatisten wollen den nach 1998 Zugezogenen aus Frankreich (jährlich etwa 1000) kein Stimmrecht zugestehen. Frankreich wiederum besteht darauf, alle Staatsbürger gleich zu behandeln; unabhängig davon, wann sie auf Neukaledonien zugezogen sind. Für die nun auf den 4. November terminisierte Abstimmung wurde festgelegt, dass all diejenigen abstimmen dürfen, die im Jahr 2014 seit 20 Jahren in Neukaledonien gelebet haben.
Sorge um Unabhängigkeit
Der langsame Übergang in die vollständige Selbstständigkeit ist weiterhin fragil und das mögliche Ergebnis des Referendums offen. Neukaledonien könnte dank der beachtlichen Nickelvorkommen über eigene Einnahmequellen verfügen, doch es werden Warnungen laut, dass eine staatliche Unabhängigkeit de facto gleich wieder an internationale Rohstoffmärkte verloren gehen könnte. Auch zunehmende geopolitische Veränderungen im pazifischen Raum und chinesische Hegemoniebestrebungen lassen Sicherheitsbedenken wachsen. Die Bewohner Neukaledoniens stehen vor der harten Entscheidung, als kleiner unabhängiger Inselstaat den künftigen Stürmen der Geopolitik ausgesetzt zu sein oder aber - unter möglichst großer Autonomie - doch weiterhin Teil der Grande Nation zu bleiben.
Wie aufgeheizt die politische Stimmung auf Neukaledonien ist, zeigt auch das Ergebnis der französischen Präsidentenstichwahl vom 7. Mai 2017: Marine Le Pen vom Front National erzielte nämlich mitten im Pazifik, 20.000 Kilometer entfernt von Paris, ihr absolutes Rekordergebnis von mehr als 47 Prozent. Das und die Tatsache, dass rund ein Drittel des neukaledonischen Budgets Jahr für Jahr als Transferleistung aus der fernen Heimat kommt, könnten ein Indiz dafür sein, wie die Wähler am Sonntag schlussendlich entscheiden werden.
Zum Autor