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Unabhängigkeit der Gerichte vor Gericht

Von Peter Hilpold

Recht
© adobe.stock / Corgarashu

In Polen wurde das politische Element bei der Richterauswahl enorm gestärkt - auf Kosten der Individualrechte. Auch in Österreich gibt es für die Bestellung der Richteramtsanwärter nicht einmal einen Personalsenat.


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Die Frage der Unabhängigkeit der Gerichte in Europa wird immer mehr zur Nagelprobe der europäischen Wertegemeinschaft. Kurz vor Weihnachten hat Generalanwalt (GA) Evgeni Tanchev seine Schlussanträge im Verfahren C-824/18 (A.B. et al. gegen den polnischen Landesjustizrat KRS) vorgelegt. Die Schlussanträge der Generalanwälte am EuGH sind in der Regel gediegene juristische Expertisen, zum Teil- auch in Abhängigkeit vom jeweiligen kulturellen Hintergrund - wahre literarische Kunststücke. Zu größerer Bekanntheit kommen sie allein schon aufgrund der komplexen Themenstellungen, die sie behandeln, selten. Die Schlussanträge von GA Tanchev schafften es hingegen in die Medien.

Verantwortlich dafür war - neben den Spitzen des GA gegen das deutsche Bundesverfassungsgericht aufgrund seiner jüngsten "ultra-vires"-Rechtsprechung im PSPP-Fall - die originelle, mutige Lösung der Frage, wie die Unabhängigkeit der Gerichte, die gerade in Polen in Gefahr ist, EU-rechtlich gesichert werden soll. GA Tanchev beginnt seine Ausführungen mit einem Zitat von Lord Neuberger, dem ehemaligen Präsidenten des Obersten Gerichtshofs Großbritanniens, dem man universelle Geltung beimessen muss: "Ist dem Bürger das Recht genommen, sich vor Gericht gegen die Regierung zu wehren, lebt er in einer Diktatur." Prägnant wird hiermit die Bedeutung effektiver gerichtlicher Rechtsbehelfe unterstrichen, ein Ziel, für das europaweit, auch in Österreich, gekämpft werden muss.

Im Zentrum der Kontroverse steht die Situation der Richterkandidaten für das Oberste Gericht in Polen, denen auf gesetzlicher Basis die Möglichkeit entzogen wurde, gegen Auswahlentscheidungen des Landesjustizrats Beschwerde einzulegen. Das politische Element bei der Richterauswahl wurde damit enorm gestärkt, die Individualrechte wurden zurückgedrängt. Eine bedenkliche Entwicklung, gegen die die polnische Rechtsordnung nun keine Handhabe mehr bietet. Doch weshalb sollte die EU dafür zuständig sein? Auf der Grundlage von Art. 19 Abs. 2 EUV, in dem offenkundig ein enormes Potenzial steckt: "Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist".

EuGH zunehmend stärker für Unabhängigkeit

Der EuGH bewegt sich zunehmend stärker in die Richtung, diese Bestimmung so auszulegen, dass die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte gewährleistet sein muss, die potenziell EU-Recht anwenden. Konkret bedeutet dies, dass die Unabhängigkeit praktisch aller Gerichte garantiert sein muss. GA Tanchevs Schlussanträge bestätigen dieses Erfordernis auch für die Auswahl der Richter. Den Richteramtsanwärtern muss ein effektiver Rechtsschutz in Bezug auf Befugnisüberschreitung, Ermessensmissbrauch, Rechtsfehler oder offensichtliche Beurteilungsfehler gewährleistet sein. Zwar ist noch das definitive Wort des EuGH abzuwarten, doch wer hierzulande meint: "Ohnehin klar, wie konnte man nur in Polen", der sei daran erinnert, dass es in Österreich derartige Beschwerdemöglichkeiten für Richteramtsanwärter von vornherein nicht gibt.

Vertrauen in objektive Auswahl in Österreich

Elisabeth Lovrek, Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, betont in ihrem Beitrag zum kürzlich erschienenen Band "100 Jahre Verfassung" das Vertrauen, das man in Österreich in eine objektive Auswahl haben kann, wobei sie aber auch vermerkt, dass hier bei der Richterbestellung zumindest theoretisch ein bestimmender Einfluss der Politik nicht auszuschließen sei. Für die Bestellung der Richteramtsanwärter gibt es nicht einmal einen Personalsenat - mit der betreffenden Entscheidung des Oberlandesgerichtspräsidenten werden dann schon maßgebliche Weichenstellungen vorgenommen (Lovrek in Anwaltsblatt 5/2019, 304).

Die beschriebenen Entwicklungen auf EU-Ebene kommen unerwartet, da man im richterlichen Bereich lange glaubte, frei schalten und walten zu können, weil ein Anknüpfungspunkt zum EU-Recht schwer zu finden war. Art. 47 der Grundrechte-Charta wäre theoretisch einschlägig, greift aber nur im "Anwendungsbereich der Verträge", und zumindest die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV, die einen idealen Anknüpfungspunkt schaffen würde, ist hier nicht relevant. Denn der hoheitliche Bereich (und Richter zählen zweifelsohne dazu) ist nach Art. 45 Abs. 4 AEUV davon ausgenommen.

Wie sehr Österreich mittlerweile bei der Gewährung eines effektiven Rechtsbehelfs EU-rechtlich nachhinkt, zeigen im Übrigen die Professoren Gilbert Gornig und Paolo Piva, ebenfalls in "100 Jahre Verfassung", auf. Die oben genannten Rechtsansprüche, deren Entzug gegenüber Richteramtsanwärtern in Polen europaweite Empörung ausgelöst hat, werden in Österreich seit dem UG 2002 nicht einmal den Universitätslehrern gewährt - und diese fallen zweifelsohne unter den viel stärkeren Rechtsschutz der Art. 45 AEUV und 47 Grundrechte-Charta.

Wertediskussion europaweit intensiviert

Die Entwicklungen in Polen und Ungarn haben zu Recht europaweit zu einer Intensivierung der Wertediskussion geführt. Der effektive Rechtsbehelf bei Personalentscheidungen ist eine wesentliche Vorgabe des EU-Rechts zur Sicherung des Rechtsstaats - nicht allein zur Vermeidung einer "brachialen" politischen Einflussnahme, sondern für den Individualrechtsschutz sowie zum Ausschluss jener subtilen Korruption, die das Vertrauen in ein werte- und leistungsbasiertes Gemeinwesen letztlich untergräbt. Die Schlussanträge von GA Tanchev können somit als richtungsweisend für Personalentscheidungen im richterlichen Dienst - beziehungsweise im Öffentlichen Dienst generell - in Polen und auch in der EU generell gesehen werden.

Eine spannende Entwicklung, die gebietet, nicht nur nach außen, sondern auch nach innen zu blicken.

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