Vor 20 Jahren starb der Mediziner und Psychologe Erwin Ringel, der sich wissenschaftlich vor allem mit dem Suizid beschäftigte und der "Österreichischen Seele" ein kontrovers diskutiertes Buch gewidmet hat.
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Er blickte tief in die österreichische Seele und schaute in einen Abgrund - wie schon andere Tiefenpsychologen und Psychotherapeuten vor ihm. Das Resultat seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse hätte der Neurologe, Suizidforscher und Vertreter der Individualpsychologie im Gefolge Alfred Adlers durchaus in medizinischen Fachbüchern vergraben können. Aber das hätte nicht nur seinem Wesen, sondern auch seiner unelitären Auffassung von den Aufgaben wissenschaftlicher Forschungsarbeit widersprochen.
Also veröffentlichte er 1984 (zufällig in jenem Jahr, in welches George Orwell seine Vision von einem totalitären Überwachungsstaat verlegte), das Buch "Die österreichische Seele. Zehn Reden über Medizin, Politik, Kunst und Religion." Die für eine breite(re) Öffentlichkeit gedachte Sammlung, die zum Teil sehr polemische Thesen enthielt, erfuhr innerhalb kurzer Zeit mehrere Auflagen und wurde zum Bestseller.
Das Buch sorgte aber natürlich auch für Aufregung. Denn Erwin Ringel war ein Mann des offenen, ungeschminkten Wortes. Das kann den Betroffenen schon einmal wehtun. Der Seelen- und Selbstmordforscher war ein leidenschaftlicher und emotionaler Mensch. Er vertrat seine Standpunkte nicht selten erregt, mit ostentativ gestischer Deutlichkeit, krächzender Stimme und großer Vehemenz. Das hat ihm nicht nur Freundschaften eingetragen.
Österreich ist ein Volk von Neurotikern
Erwin Ringel traf mit seinem Befund der österreichischen Seele, wie schon vor ihm Helmut Qualtinger und Carl Merz in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, den Nerv der Zeit. Seine scharfsinnige Diagnose war alles andere als schmeichelhaft. Er las seinen Landsleuten erbarmungslos die Leviten. Die Österreicher, polterte der Polemiker und große Vereinfacher, sind ein Volk von Neurotikern. Die Neurotisierung beginnt bereits in der Kindheit, denn die Erziehungsziele des Österreichers sind Gehorsam, Höflichkeit, Sparsamkeit - und daraus leitet sich die Bereitschaft zu "devotem Dienen" und zum vorauseilenden Gehorsam ab.
Die Kinder dürfen keine Eigenexistenz führen, nicht "glücklich sein". Der Hass auf die Eltern, der durch diese Neurotisierung entsteht, darf nicht artikuliert werden, er wird verdrängt, sodass man geradezu von einer "Verdrängungsgesellschaft" sprechen kann.
Ringels Befund: Psychosomatische Krankheiten grassieren in Österreich wie in kaum einem anderen Land. Unbewältigte Gefühle schädigen aber den Körper, denn was kränkt, macht krank. Wir haben nirgendwo gelernt, weder im Elternhaus noch in der Schule, und auch später im Berufsleben nicht, mit unseren Gefühlen zurechtzukommen. Wir werden damit allein gelassen. So wird die Kindheit zur Geburtsstunde der Neurose. Ringel schränkt ein, dass in unserem Land auch gesunde Kinder heranwachsen, aber seine Beurteilung treffe doch für die Mehrzahl der Kinder zu. Trotzdem ist Ringels Diagnose übertrieben, und ich wage die Behauptung, dass sich die Erziehungssituation heute in vielen Bereichen gebessert hat. An die Stelle der repressiven Erziehung ist freilich oft eine falsch verstandene Laissez-faire-Erziehung getreten.
Der unbequeme Mahner sagte seinen Mitbürgern noch andere unangenehme "Wahrheiten" ins Gesicht. Er bemängelte ihre oberflächliche Lebensphilosophie, ihre selbstzerstörerische Todessehnsucht, ihre raunzerische Wehleidigkeit, ihre quälende Unbestimmtheit, ihren gebefreudig verbrämten, komplexbeladenen Fremdenhass. Im Besonderen brandmarkte er den "immer noch lebendigen Antisemitismus". In der Tat hat der Antisemitismus in unserem Land eine lange, aus verschiedenen Quellen gespeiste Tradition.
Aber nicht nur mit seinen österreichischen Landsleuten, auch mit der katholischen Kirche ging der gläubige Katholik hart ins Gericht. Er sprach sich gegen deren altväterische Sexualmoral aus, gegen manche unlebbaren Dogmen und zwanghaften Rituale und beklagte die "Gottesverdrängung" in der säkularisierten Gesellschaft.
Erwin Ringel, der das Christentum wieder christlich machen wollte, stand selbstverständlich auf dem Boden des Zweiten Vatikanums. Unter dem weltoffenen Johannes XXIII. wagte es eine "weltweite Organisation" - so fasste er dessen Ergebnisse psychotherapeutisch zusammen -, "sich mit sich selbst zu konfrontieren, Verdrängungen aufzuheben, Fehler einzugestehen, Reue zu erwecken, Wege der Wiedergutmachung zu suchen - kurz, es war ein einmaliges und wunderbares Geschehen."
Rückbesinnung auf die Evangelien
Als scharfsinniger Beobachter der Szene sah Ringel in der postkonziliaren Welt auch bereits wieder rückläufige, christentumfremde Tendenzen um sich greifen. "Wir werden wieder verschlossener, selbstgefälliger, intoleranter, üben wieder Macht aus, richten wieder", konstatierte er resigniert und stellte mit hoffnungsfroher Überzeugung fest: "Welche ungeheure Kraft könnte von diesem Christentum ausgehen, wenn es sich auf die Evangelien besänne."
Mit dem neuen Papst Franziskus an der Spitze der römisch-katholischen Weltkirche könnte sich diese Hoffnung mittlerweile erfüllen. Aber den hat Ringel nicht mehr erleben dürfen . . .
Der Sohn eines Mittelschulprofessors kam am 27. April 1921 in Timisoara (ehemals Temesvar) im heutigen Rumänien zur Welt. Die Eltern hatten ihren Wohnsitz zwar im niederösterreichischen Hollabrunn, aber die Mutter gebar ihr Kind im Haus ihrer Eltern. Kurz nach der Geburt kehrte sie nach Hollabrunn zurück, wo Erwin eine glückliche Kindheit verbrachte. Immer wieder wies er darauf hin: "Ich hatte eine einmalig schöne, wunderbare Kindheit, die in mir noch bis zum heutigen Tag nachwirkt; weil ich damals Liebe erfahren durfte, konnte ich dem Prinzip der Liebe treu bleiben, Unmenschlichkeit zurückweisen, Zuwendung ausstrahlen . . ."
Im Schussfeld der Gestapo
Nach der Übersiedlung der Familie nach Wien besuchte Erwin Ringel das Akademische Gymnasium, an dem er auch maturierte. Der Mittelschüler engagierte sich aktiv in der katholischen Jugendbewegung und geriet prompt in das Schussfeld der Gestapo. Nach Kriegsbeginn zur deutschen Wehrmacht einberufen, demons-trierte er gegen das NS-Regime, als er in der Ausbildungszeit das Gewehr zu Boden schmiss und in einem "Anfall von Wahnsinn" ausrief: "Keine 20 vernünftigen Menschen sollten einem solchen Psychopathen gehorchen." Er meinte damit natürlich niemand anderen als Adolf Hitler . . .
Vor den schwerwiegenden Folgen, die damit verbunden gewesen wären, rettete ihn ein im Widerstand tätiger Militärarzt. Ringel wurde wegen "Schilddrüsenüberfunktion" aus der Wehrmacht entlassen.
Er ergriff das Medizinstudium, promovierte 1946 zum Dr. med. und begann eine Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Neurologie. Die hohe Selbstmordrate in Österreich lenkte bald seine Aufmerksamkeit auf suizidgefährdete Menschen. Ringel untersuchte und beschrieb deren seelische Verfassung und prägte den Begriff des "Präsuizidalen Syndroms", das untrennbar und bleibend mit seinem Namen verbunden ist.
1948 gründete der junge Arzt das erste Selbstmordverhütungszentrum in Europa, das 1970 zum Kriseninterventionszentrum erweitert wurde. Die für die Selbstmordforschung essenziellen dia-gnostischen und therapeutischen Befunde Erwin Ringels veranlassten auch die römisch-katholische Kirche zum Umdenken. Sie verweigerte Selbstmördern nicht länger ein christliches Begräbnis.
Auf seinem zweiten wissenschaftlichen Forschungsgebiet, der Psychosomatik, stieß Ringel wie schon beim Suizid auf zum Teil heftigen ärztlichen Widerstand. Der Seelendoktor, der für die Leiden psychosomatischer Patienten ein ungewöhnlich einfühlsames Sensorium hatte, richtete bereits 1954 an der Neurologisch- Psychiatrischen Universitätsklinik seines verehrten Lehrers Hans Hoff die erste Zehnbettenstation in Österreich ein und kämpfte unermüdlich gegen die Vorurteile an, die zu seiner Zeit psychisch Kranken entgegenschlugen. Heute ist die Erkenntnis, dass viele körperliche Erkrankungen seelische Ursachen haben, eine gesellschaftliche Binsenweisheit.
Erwin Ringel, der viele Jahrzehnte mit einer schweren und zunehmenden Behinderung leben musste, die ihn in den letzten zehn Jahren seines Lebens an den Rollstuhl fesselte, war ein zutiefst sozial denkender Mensch. Er war ein sprachgewaltiger Anwalt der Armen, Schwachen und Entrechteten in der Gesellschaft und kämpfte zeitlebens unermüdlich gegen Intoleranz, Rassenhass, Faschismus und Antisemitismus.
Großer Opern- und Literaturfan
Von seiner ungewöhnlichen Persönlichkeit gingen riesige Kraftströme aus, die Freund und Feind beeindruckten. Seine Ansichten reizten zum Widerspruch. Der streitbare Arzt, der vor keinem Tabu zurückschreckte, suchte geradezu die Konfrontation. Humanistisch und enzyklopädisch gebildet, galten seine eminent musischen Interessen vor allem der Musik und der Literatur. Der Opernfan, der zahlreiche Künstler zu seinen Freunden zählte, schöpfte bei seinen Vorträgen aus einem riesigen Fundus von literarischem und musikhistorischem Wissen, mit dem er seine Ausführungen veranschaulichte und untermauerte.
So stellte er etwa das Problem der Todesbewältigung am Beispiel Gustav Mahlers dar und befasste sich ausführlich mit der Bedeutung von Friedrich Torbergs Roman "Der Schüler Gerber" für die moderne Selbstmordverhütung.
Im letzten Abschnitt seines Lebens hatte er einen Engel um sich, der nicht zufällig Angela hieß. Angela Ringel-Fernandy, seine zweite Ehefrau, war eine geduldige, selbstlose Gefährtin, mit deren liebesbereiter, fürsorglicher Hilfe Erwin seine berufliche und wissenschaftliche Tätigkeit fortsetzen konnte. Die kluge, lebenstüchtige Psychotherapeutin schob den Rollstuhl, meisterte souverän den Alltag, begleitete ihn auf seinen Vortragreisen und hatte Verständnis für seine Heftigkeiten.
Erwin Ringels Herz hörte am 28. Juli 1994 in Bad Kleinkirchheim (Kärnten) auf zu schlagen. Der vielfach ausgezeichnete "Bürger der Stadt Wien" wurde in einem Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof begraben. Die Welt von heute hätte Persönlichkeiten seines Formats dringend vonnöten.
Friedrich Weissensteiner war Direktor eines Wiener Bundesgymnasiums und ist Autor zahlreicher Bücher, (u.a. "Die Frauen der Genies", "Die rote Erzherzogin", "Franz Ferdinand, der verhinderte Herrscher").