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Uncle Sams Gratwanderung

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Die USA setzen im Kampf gegen den IS mehr und mehr auf die Kurden als einzig effektive Verbündete. | Für die türkische Regierung ist der Strategiewechsel der westlichen Vormacht ein Affront.


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Istanbul. Die Bilder sagen alles. Sie zeigen zwei syrische Frauen, die ihre schwarzen Kutten und Gesichtsschleier abstreifen und sich stolz in ihren traditionellen bunten Kleidern präsentieren, mit offenem Gesicht. Die tausendfach im Internet geklickten Fotos entstanden nach Angaben des Fotografen in einem Dorf in der Nähe der 100.000-Einwohner-Stadt Manbidsch in Nordsyrien, das die syrischen Kurden und ihre arabischen Verbündeten der "Syrischen Demokratischen Streitkräfte" (SDF) am Sonnabend von der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) erobert haben. Sie illustrieren, was Reporter von der Front berichten: Die Menschen in den befreiten Dörfern feiern das Ende der IS-Herrschaft.

Im Windschatten der Offensiven gegen den IS im irakischen Falludscha und syrischen Rakka stoßen rund 4000 Kämpfer der Anti-IS-Koalition in Nordsyrien seit Beginn des islamischen Fastenmonats Ramadan Anfang Juni nach Westen in die Provinz Aleppo vor. Die SDF-Truppen setzten mit zahlreichen Schiffen und schwerem Gerät über den Euphrat und kamen mit der Unterstützung von US-Luftschlägen sowie französischer und US-Elitetruppen schnell in dem Gebiet voran, das der IS seit rund zwei Jahren besetzt hält - flaches Gelände, das zwischen der türkischen Grenze, dem Euphrat und der umkämpften Metropole Aleppo liegt. Der IS war völlig überrumpelt, die SDF befreiten dutzende von Dörfern in der Umgebung von Manbidsch.

Am Freitag gelang es den SDF, Manbidsch vollständig zu umzingeln. Am Wochenende flogen US-Kampfjets ununterbrochen Angriffe auf die Stadt, durch die die wichtigste Verbindungs- und Nachschubroute des "Kalifats" von der Grenzstadt Dscharabulus am Euphrat in seine sogenannte Hauptstadt Rakka verläuft, die jetzt erstmals seit zwei Jahren gekappt ist. Der US-Sondergesandte für Syrien Brett McGurk sagte am Freitag, in Manbidsch hätten IS-Strategen die Terrorangriffe auf Paris und Brüssel geplant; ein weiterer Grund für die Offensive. Tausende Menschen sind aus der überwiegend von Arabern, aber auch Kurden bewohnten Stadt inzwischen geflohen. Der aus Tunesien stammende IS-Gouverneur Osama al-Tunisi wurde am Sonnabend von kurdischen Truppen auf der Flucht getötet.

IS geht offenbar Munition aus

Seither ziehen die Kurden die Schlinge zu und rücken unter schweren Gefechten auf das Stadtzentrum vor, in dem sich rund 2000 IS-Kämpfer aufhalten sollen, aber auch mehrere zehntausend Zivilisten als menschliche Schutzschilde in der Falle sitzen. Nach Angaben des niederländischen Reporters Wladimir van Wilgenburg haben die SDF ihre Angriffe am Montag mit Rücksicht auf die Zivilisten verlangsamt. Die Dschihadisten verbrennen unterdessen hunderte Autoreifen, um US-Luftschläge durch den schwarzen Rauch zu erschweren. Ihnen gehe offenbar die Munition aus, berichteten Reporter auf Twitter.

Die strategische Bedeutung der SDF-Offensive auf Manbidsch ist enorm. Gelingt es den Verbündeten, den IS vollständig aus Manbidsch zu vertreiben, wäre das strategische Ziel der Operation erreicht, den IS von seiner Verbindung in den Westen abzuschneiden. Mit der gemeinsamen Offensive erweisen sich die Kurden einmal mehr als verlässliche Bundesgenossen der Amerikaner. Washington signalisiert der Türkei damit, dass man den ursprünglichen Plan ad acta gelegt hat, den IS zusammen mit türkisch unterstützten Rebellengruppen wie der Freien Syrischen Armee (FSA) zu besiegen. Dieses Vorhaben ist spätestens seit Ende Mai Geschichte, als der IS den lebenswichtigen Zugang der FSA von der Türkei nach Aleppo unterbrach und große Gebiete der Türkei-nahen Rebellen eroberte.

Mit ihrem Partnerwechsel begingen die Amerikaner aus der Sicht Ankaras den Affront, statt auf den Nato-Verbündeten Türkei auf dessen Erzfeinde zu setzen - die Kurden. Dieses Gefühl verstärkte der gemeinsame Vormarsch der SDF mit US-Elitetruppen über den Euphrat. Die SDF überquerten damit eine Grenze, die der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan den syrischen Kurden seit Januar lautstark gezogen und immer wieder als "rote Linie" für einen Einsatz eigener Truppen gegen sie bezeichnet hatte.

Leere Drohungen Ankaras

Doch die Brandreden aus Ankara erwiesen sich als leere Drohungen. Medien und Politiker der Türkei kritisierten den SDF-Angriff zwar lebhaft, und Außenminister Mevlüt Cavusoglu bot den USA an, statt der SDF türkische Truppen gegen den IS zu schicken, doch Washington lehnte dankend ab. Ankara bekam lediglich die vage Zusage, dass sich die Kurden nach einem Sieg über den IS in Manbidsch wieder über den Euphrat zurückziehen und die Verwaltung ihren arabischen Mitstreitern überlassen würden.

Doch dieses Szenario ist unwahrscheinlich. Mit der Einnahme von Manbidsch wären die syrischen Kurden ihrem Traum eines vereinigten Kurdengebietes in Syrien so nahe wie noch nie und hätten ein wertvolles territoriales Faustpfand. Sie hätten den USA einen historischen Gefallen getan, und ihnen fehlen nur noch wenige Dutzend Kilometer, um die angestrebte Landbrücke zwischen dem von ihnen kontrollierten Gebiet östlich des Euphrats und dem Kurdenkanton Afrin nordwestlich von Aleppo herzustellen.

Genau das aber will die Türkei unbedingt verhindern, zumal sie die syrischen Volksverteidigungskräfte YPG, die den militärischen Kern der SDF bilden, wegen ihrer engen Verbindung zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK als Terroristen ansieht. Zum Ärger Ankaras betrachtet Washington die YPG aber als wichtigste Verbündete in Syrien und weigert sich beharrlich, diese als Terrorgruppe zu bezeichnen.

Nach Angaben der oppositionsnahen syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London wurden bei den Gefechten um Manbidsch bis zum Sonntag mindestens 193 IS-Kämpfer, 22 Rebellen und 37 Zivilisten getötet. Laut dem UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sind aufgrund der Offensive mindestens 20.000 Menschen auf der Flucht.