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Eine Nation ist gespalten. Die Hälfte der Briten will in der EU bleiben, die andere will raus aus der EU. Das hat nicht nur mit der EU zu tun. Sondern auch damit, wie sich die Briten selbst sehen. Und dass viele noch immer von einer anderen Zeit träumen.
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London. Welche Seite auch immer zum Sieger erklärt wird heute, nach dieser langen Schlacht um Europa: Ein bitteres Unbehagen wird den Sieg überschatten, wenn ausgezählt ist. Das Referendum wird zwar ein Resultat gebracht, Großbritannien als Ganzes aber keinen Konsens erreicht haben. Das Land ist mittendurch gespalten - und generell ratlos, was seine Rolle in Europa angeht. In diesem Sinn hat das Referendum wenig gelöst für die Briten. Die nationale Unschlüssigkeit beim Blick über den Kanal ist überdeutlich geworden. Für sich selbst haben die Briten keine klare Antwort gefunden. Das hat, wie man weiß, vielfältige Gründe gehabt.
Ein Grund dafür, warum sich die Ansichten so scharf teilten, reicht unterdessen weit zurück in die Insel-Geschichte. Boris Johnson, Michael Gove und den anderen "Brexiteers" ist es gelungen, ein tiefsitzendes Verlangen nach Eigenständigkeit und internationaler Geltung zu einer flammenden Kampagne für "neue nationale Größe" und gegen die EU zu nutzen. Sogar den nostalgischen Traum, der in dies Verlangen verwoben ist, hat Johnson regelmäßig beim Namen genannt, bei seinen Auftritten. "Wir haben schließlich einmal", rief er den Wählern immer wieder zu, "das größte Empire besessen, das die Welt je gesehen hat!" Und noch immer sei Großbritannien "wirtschaftlich gesehen das fünftstärkste Land der Erde".
Global statt kontinental
Die Briten könnten "bestens auf eigenen Beinen" stehen, ist Johnson überzeugt. Sie müssten sich nicht "an Europa ketten". Was für Britannien wichtig sei, sei ein "globaler Ausblick". Statt sich mit Europa abzumühen, sollte man mit wirklich großen Nationen wie Indien und China und natürlich mit der ganzen englischsprachigen Welt - der sogenannten "Anglosphere" - im Bunde stehen.
Das hatte vor über einem halben Jahrhundert schon der Tory-Premier Anthony Eden so ähnlich formuliert. "Großbritanniens Geschichte und seine Interessen", sagte Eden in den 50er Jahren, "liegen weit jenseits des europäischen Kontinents." Denn die "Familienbande" der Insel führten "in alle Winkel der Welt", und nicht nach drüben, nach Europa. Wenig später sollten die außenpolitischen Realitäten mit dem Suez-Kanal-Debakel Britanniens imperialem Anspruch und Edens Karriere ein jähes Ende bereiten.
Zur gleichen Zeit änderten sich im Nachkriegs-Europa die politischen Gewichte. Die Europäische Wirtschafts-Gemeinschaft (EWG), von britischen Politikern lang verächtlich abgetan, erwies sich als zunehmend erfolgreiches Unternehmen. Das zwang nachdenklichere Geister in London zur Neubesinnung. Anfang der 60er Jahre ließ Edens Nachfolger Harold Macmillan von hohen Regierungsbeamten eine "Top Secret" gestempelte Studie erarbeiten, die ihm auf unmissverständliche Weise nahelegte, dass Großbritannien sich nicht länger einreden durfte, eine Großmacht wie die USA oder die Sowjetunion zu sein. London, hieß es in der Studie, könne sich nicht einmal darauf verlassen, dem zum "neuen Rom" aufgestiegenen Washington als treues Griechenland zur Seite stehen zu dürfen.
Die "spezielle Beziehung" zu den USA, warnten Macmillans Ratgeber, hänge völlig ab "von der Bereitschaft der Amerikaner" zu einem solchen Arrangement. Großbritannien dürfe sich um Himmels willen "nicht in einer Lage finden, in der wir ultimativ eine Wahl treffen müssten zwischen den beiden Seiten des Atlantik". Unschwer lassen sich von hier Parallelen zum jüngsten Besuch von US-Präsident Barack Obama in London und zu dessen Appell an die Briten, sich nicht von der EU abzukehren, ziehen.
Macmillan zog aus dem Rat, den er erhielt, den Schluss, dass es für die Briten keine andere Wahl gab, als bei den europäischen Entwicklungen mitzuziehen. Wenige Monate später beantragte er die Aufnahme Großbritanniens in die EWG. "Wir müssen die Weltlage so sehen, wie sie heute ist und wie sie morgen sein wird", seufzte er damals, "und nicht in antiquierten Begriffen einer verflossenen Zeit."
Wie Macmillians Antrag zu jener Zeit auf französische Ablehnung stieß und wie es bis in die 70er Jahre dauerte, dass Großbritannien wirklich der EWG beitreten konnte, ist heute bekannt. Edward Heath war es, der die Briten "nach Europa" führte. 1973, vor 43 Jahren, begann die die Mitgliedschaft der Insel. Und zwei Drittel der Briten hießen im Europa-Referendum von 1975 diese Entscheidung nachträglich gut.
Frei und ungebunden
Die aber Anthony Edens Traum weiter träumen wollten, ließen sich durch die neuen Zusammenarbeits-Bemühungen davon nicht abhalten. "Auch die heutigen Brexiteers noch schmachten nach Glanz und Glorie elisabethanischer Zeiten und stellen sich Britannien als Freibeuter, frei und ungebunden, vor", meinte jüngst der prominente "Financial Times"-Autor Philip Stephens in einem Essay. Leute wie Boris Johnson sähen sich selbst "als Abenteurer, die Europa hinter sich lassen, um ihr Glück in weit abliegenden Ländern zu finden", Um dort Reichtümer aufzustöbern, sich umzutun, mit den Eingeborenen zu handeln.
Diese wehmütige Fantasie knüpft Stephens zufolge an den "nationalen Mythos" an, "den sich die Viktorianer als Erklärung für die Unvermeidlichkeit des britischen Empire ausgedacht hatten". Nämlich den Mythos ihrer angeblichen Andersartigkeit und kulturellen Überlegenheit, "der englischen Besonderheit".
"Als Engländer geboren zu sein, bedeutet, die Lotterie des Lebens gewonnen zu haben", pflegte es ja schon der Kolonialpolitiker und Diamanten-Krösus Cecil Rhodes auszudrücken. Das britische Empire, urteilt die Harvard-Geschichtsprofessorin Emma Rothschild, sei in diesem Sinne bis heute das "ewige Zauberelexier" der Tory-Nationalisten.
Die ewig Belagerten
Mit Dünkel und überzogenem Selbstwertgefühl ging auch der inzwischen verstorbene "Guardian"-Mitherausgeber Hugo Young hart ins Gericht. "Dieser Traum von einem unabhängigen Britannien" sei immer von "übler Arroganz" gekennzeichnet, schrieb Young einmal aufgebracht. "Man will, dass wir nicht nur Brüssel kritisieren, sondern die Deutschen verabscheuen, die Franzosen verlachen und nichts Gutes zu sagen haben über irgend ein anderes Land in Europa." Und das alles nur, "damit wir uns in unserem Gefühl ewigen Belagertseins schön britisch fühlen können".
Young führte diese Haltung auf einen seltsamen Widerspruch im Denken der "Euroskeptiker" zurück. Zum einen, meinte er, hielten viele seiner Landsleute Britannien für so groß und allmächtig, dass sie glaubten, ganz ohne das "kontinentale Hinterland" auskommen zu können. Zum andern fühlten sie sich immer so klein, so bedrängt von außen, dass sie davon überzeugt seien, ihr Land müsse bei einem Gerangel mit den Kontinentaleuropäern immer gleich verlieren und sofort seine Identität einbüßen.
Gewiss, räumen britische Historiker ein, habe die durchaus reale Bedrohung der Briten durch Hitlers Truppen auch ihre Spuren in der kollektiven Psyche hinterlassen. Nach dem Krieg und auch später hat man auf der Insel das "europäische Projekt" immer mit anderen Augen gesehen als die sich aus den Trümmern aufrappelnden Deutschen und Franzosen, die faschismusmüden Spanier oder später die freiheitsdurstigen Osteuropäer.
Aber dass "die feinste Stunde" Britanniens, die "einsam-trotzige" Zeit von 1940 bis 1941, sich als Fokus aller Selbst-Identifikation so hartnäckig gehalten hat im nationalen Gedächtnis; dass Politiker und Pressebarone historische Ressentiments gegen Europa stets rücksichtslos nutzten; dass die meisten Medien ansonsten wenig Interesse am Kontinent zeigten; und dass "Europa" trotz aller Ferienreisen und aller Kanaltunnel-Anbindung den Briten ein weitgehend unbekanntes Wesen geblieben ist, das sich wahlweise zum lächerlichen Popanz oder zum Schreckgespenst aufbauschen lässt - das hat eher politische als geografische Gründe gehabt.
Denn kaum eine Regierung, sei es nun Labour oder Tory, hat die EU daheim je wirklich als etwas Positives herausgehoben. Für Konservative wie die "Eiserne Lady" Margaret Thatcher zum Beispiel war "Brüssel" etwas, das man kleinhalten musste. Britische "Patrioten" verachteten die EU und misstrauten ihr. Man betrachtete sie als notwendiges Übel, vornehmlich, um den eigenen Kommerz am Laufen zu halten. Mit politischer Gemeinschaft hatten die Tories nie etwas am Hut. Dabei hatte Thatcher selbst 1975 noch fleißig für die EWG geworben. Später, an der Regierung, begann sie zur Freude der Parteirechten gleichsam mit der Handtasche auf die "Brüsseler Bürokraten" einzuschlagen. Ihr Lieblingswort gegenüber ihren kontinentalen "Partnern" war "No! No! No!".
Die Angst vor dem Kapital
Und vielen Labour-Leuten waren "die Europäer" kaum sympathischer. Zu Macmillans Beitritts-Hoffnungen erklärte der damalige Labour-Chef Hugh Gaitskell noch, ein EWG-Beitritt würde "das Ende Britanniens als eines unabhängigen europäischen Staates" bedeuten: "Es wäre das Ende einer tausendjährigen Geschichte." Misstrauen gegen eine Organisation, hinter der die britische Linke lange eine "kapitalistische Verschwörung" witterte, hielt auch Labour davon ab, Freundliches über die EU zu sagen. Noch jetzt, in der Referendums-Kampagne, fiel es dem linkssozialistischen Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn sichtlich schwer, für Verbleib einzutreten - nachdem er ein Leben lang für Austritt plädiert hatte.
Dass vor einem solchen Hintergrund sich die Bevölkerung spaltete, konnte niemanden überraschen. Zumal es den Brexiteers gelang, in den "nationalen Mythos" der insularen Besonderheit latente Ängste vor "Immigrantenströmen" einzuflechten. Das hatte, zur Zeit der westindischen Einwanderer der 60er Jahre, schon sehr effizient der damalige Tory-Rechtsaußen Enoch Powell versucht. Powell prophezeite, dass den Immigranten "Ströme von Blut" auf den Straßen Britanniens folgen würden. Diesmal - bei Johnson, Gove und Ukips Nigel Farage - ging es um offene EU-Grenzen, Balkanvölker, syrische Flüchtlinge und Millionen und Abermillionen Türken.
Den verstorbenen Hugo Young hätte die Entwicklung der vergangnen paar Jahre wohl nicht überraschen können. Schon zu Anfang des Jahrhunderts hatte der "Guardian"-Mitherausgeber erklärt, das uralte Problem seiner Landsleute sei es, "der Zukunft nicht ausweichen und von der Vergangenheit nicht lassen" zu können. Seine große Hoffnung, sagte Young einmal, bleibe, "dass es uns gelingt, irgendwann aus dem Gefängnis der Vergangenheit in eine Zukunft zu entkommen, die uns zu guter Letzt den Luxus erlaubt, beides sein zu dürfen - nämlich britisch und europäisch zugleich".