Montenegros Präsident Milo Djukanovic bekräftigte auf dem EU-Gipfel in Zagreb medienwirksam seine Entschlossenheit, die jugoslawische Teilrepublik in die Unabhängigkeit zu führen. Bis Mitte kommenden Jahres sollen die Montenegriner in einem Referendum über die Frage abstimmen. Die "Wiener Zeitung" befragte am Vortag des Gipfeltreffens den Generalsekretär im Außenamt und ausgewiesenen Balkanexperten Albert Rohan zu dem Thema sowie zu einem möglichen Szenario über die Zukunft des Kosovo.
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Der Westen steht einer Abspaltung Montenegros unisono kritisch gegenüber, ließ Rohan keinen Zweifel offen. "Und zwar aus dem einfachen Grund, weil ein weiterer unabhängiger Kleinstaat nur zusätzliche Probleme schaffen würde". Der höchste Diplomat im Außenamt verwies auch auf eine kürzlich in Montenegro durchgeführte Meinungsumfrage, in der sich 39 Prozent gegen die Unabhängigkeit ausgesprochen hatten und nur 48 Prozent dafür. "Das ist eine sehr schwache Mehrheit. Die Umfrageergebnisse müssten Djukanovic zu denken geben".
Rohan ist über die Eile, mit der das Referendum vorangetrieben wird, sehr verwundert: Noch vor einem Jahr habe Djukanovic ihm in Podgorica erklärt, dass er ein solches nur dann für sinnvoll halte, wenn reelle Chancen auf eine Zwei-Drittel-Mehrheit bestünden. "Davon ist er aber im Moment weit entfernt".
Den Grund dafür, dass die Weg-von-Belgrad-Bewegung an Dynamik verloren hat, sieht Rohan vor allem in dem demokratischen Umbruch in Belgrad. "Man sieht Serbien jetzt offenbar doch etwas anders als unter dem Milosevic-Regime". Dieses hatte eine Wirtschaftsblockade gegen Montenegro verhängt, einseitig die föderale Verfassung abgeändert und die jugoslawische Armee als Machtmittel gegen das montenegrinische Volk eingesetzt. "Alle diese Dinge werden wegfallen, ein Zusammenleben scheint Vielen daher jetzt möglich".
Intensive Verhandlungen der beiden Teilrepubliken über das weitere Miteinander erwartet Rohan erst nach den Wahlen in Serbien am 23. Dezember. Dann werde man sehen, ob beide zu einer Einigung kommen oder nicht.
Allerdings warnte Rohan, der nach dem Machtwechsel Anfang Oktober als einer der ersten westlichen Diplomaten zum jugoslawischen Präsidenten Kostunica nach Belgrad reisten, davor, dass Serbiens Bestrebungen, Montenegro von einem gemeinsamen Bundesstaat zu überzeugen, allgemein überschätzt werden könnte.
"Es ist durchaus auch möglich, dass von serbischer Seite gesagt wird, wenn die Montenegriner nicht bei uns bleiben wollen, dann sollen sie halt gehen". Diese Haltung habe er sowohl im Gespräch mit Kostunica als auch mit dem neuen jugoslawischen Außenminister Goran Svilanovic klar herausgehört. Verständlich sei sie allemal: Serbien müsse, obwohl um ein Vielfaches größer als Montenegro, "in einem föderalen oder konföderalen Arrangement der kleineren Teilrepublik eine paritätische Stellung einräumen" - also die gleiche Stellung in Parlament und Regierung. Auch die in der jugoslawischen Verfassung festgeschriebene Rotation des Außenministerpostens sei bei diesem Größenverhältnis eigentlich "nicht so selbstverständlich".
Rohan kann sich vorstellen, dass in Serbien die Stimmen jener wachsen werden, die bereit sind, Montenegro ohne wenn und aber in die Selbstständigkeit zu entlassen, sollte das tatsächlich gewünscht werden. "Eine solche Übereinkunft könnte sogar auch einvernehmlich geschehen".
Aufkeimenden Widerstand sieht Rohan eher auf Seiten der Bevölkerung in Montenegro und der dortigen Oppositionspartei SNP, die nicht viel weniger Stimmen auf sich vereint als die Regierungskoalition von Djukanovic. "Und selbst die ist gespalten", erläutert der Balkan-Kenner und OSZE-Beauftragte für die Region gegenüber der "Wiener Zeitung": Die Volkspartei habe sich bereits klar gegen eine Loslösung ausgesprochen. "Im Spätfrühjahr wird die Sache zum Kochen kommen".
"Kosovo ist anders"
Im Kosovo, in dem ebenfalls, und zwar quer durch alle politischen Parteien, die Unabhängigkeit gefordert wird, sieht die Lage hingegen anders aus. Einen Freibrief für die Unabhängigkeit wird es dort nicht geben, ist Rohan überzeugt. "Das entspricht auch der internationalen und der österreichischen Haltung". Ein Szenario jenseits der bestehenden UNO-Verwaltung scheint daher in absehbarer Zukunft unwahrscheinlich.
"Kostunica und Svilanovic akzeptieren die Resolution 1244 der Vereinten Nationen als Basis für den derzeitigen Status: Sie wissen genauso wie wir (im Westen), dass eine Lösung, die sowohl Serbien als auch die Kosovo-Albaner befriedigen würde, im Moment unmöglich ist, und sind daher - wie wir - der Auffassung, dass man diese Frage einfach aufschieben sollte". Vorrangiges Ziel sei es, die Wirtschafts- und Sicherheitslage in der Provinz zu verbessern und die Rückkehr der Serben zu ermöglichen. "Dieser politische Diskurs sollte jetzt nicht durch eine Debatte über den endgültigen Status belastet werden. Es gibt eben Probleme, die lange unlösbar bleiben. Schauen Sie in den Nahen Osten, dort wird seit 50 Jahren gekämpft und gerade jetzt sind wir fast wieder dort, wo wir vor Jahrzehnten schon waren".
Die von Kostunica lancierte Autonomieregelung auf Basis der Verfassung von 1974 sieht Rohan durchaus als ernstzunehmende Verhandlungsbasis. "Immerhin hatte der Kosovo fast die gleichen Rechte wie die damaligen sechs jugoslawischen Republiken". Auch der Status einer Teilrepublik wäre eine denkbare Variante, meint Rohan auf eine entsprechende Frage. "Sie hat nur einen Fehler: dass sie von keiner Seite akzeptiert wird - nicht einmal von Montenegro", wie er sich in Gesprächen höchst persönlich überzeugen konnte: "Podgorica lehnt das ab - und wie! Einschließlich der Opposition. Auch die habe ich gefragt".
Fast, merkt Rohan ob seiner langjährigen Erfahrung auf dem Gebiet Ex-Jugoslawiens schmunzelnd an, könnte man sagen, die Lösung sei deshalb vernünftig, weil sie von allen abgelehnt werde: "ein echter Kompromiss eben. Aber dazu ist psychologisch die Zeit nicht reif."