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Uneins über Mordmotiv

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Russland warnt Regierung in Ankara vor voreiligen Schlüssen nach Attentat auf Botschafter.


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Istanbul. Zwischen Russland und der Türkei ist ein Streit darüber entbrannt, wer hinter dem Attentat auf den russischen Botschafter Andrej Karlow am Montagabend in Ankara stecken dürfte. Während die türkische Regierung die "üblichen Verdächtigen" aus der sogenannten Gülen-Bewegung verantwortlich macht, warnte der Kreml vor voreiligen Schlüssen. Dieser sieht vielmehr pro-syrische Terroristen am Werk. Die syrische Dschihadistenmiliz Jabhat Fatah al-Sham, die frühere Al-Nusra-Front, hätte sich mit einer Erklärung zu dem Mord bekannt, meldete die russische Nachrichtenagentur Sputnik am Mittwoch. Die Authentizität der Erklärung wurde umgehend bezweifelt. Unterdessen verweisen Regierungskritiker in der Türkei auf zahlreiche Ungereimtheiten ei Ankaras offizieller Darstellung. Karlow war am Montag vor laufenden Kameras erschossen worden, als er bei der Einweihung einer Fotoausstellung eine Ansprache hielt. Der Angreifer, ein 22-jähriger türkischer Sondereinsatzpolizist namens Mevlüt Mert Altindas, wurde kurz nach seiner Tat von Sicherheitskräften getötet. Russland hatte am Dienstag ein Team von 18 Experten nach Ankara gesandt, die zusammen mit türkischen Ermittlern den Mord an dem Diplomaten untersuchen und nach den Drahtziehern fahnden sollen.

Auf einer arabischsprachigen Webseite, die der Fatah-al-Sham-Front zugerechnet wird, veröffentlichte die syrische Gruppierung am Mittwoch einen Brief, in dem es heißt: "Einer der Helden der Al-Fatah, Märtyrer Mert Altindas, führte die Hinrichtung (...) aus, weil die Welt dazu schweigt, was in Aleppo geschieht." Die Al-Sham-Front kämpft in Syrien gegen die Truppen von Diktator Baschar al-Assad und wurde zumindest zeitweise von der Türkei unterstützt.

Die türkische Regierung und regierungsnahe Medien legte sehr schnell nach dem Attentat auf die Bewegung des in den USA lebenden Islampredigers Fethullah Gülen als Drahtzieher fest, dessen Auslieferung Präsident Recep Tayyip Erdogan Erdogan fordert. Er macht die inzwischen als "Fethullahistische Terrororganisation" (FETÖ) bezeichnete Gruppe für den Putschversuch am 15. Juli verantwortlich. Mehr als 100.000 vorgebliche Gülenisten wurden seither aus dem Staatsdienst entlassen und über 40.000 verhaftet, unter ihnen zahlreiche Angehörige der Sondereinsatzpolizei. Der Prediger Gülen verurteilte den Anschlag gestern allerdings scharf.

Als Reaktion auf den Anschlag nahm die türkische Polizei bis zum Mittwoch 13 Verdächtige fest, darunter die Eltern des aus der westtürkischen Provinz Aydin stammenden Attentäters Mevlüt Mert Altindas sowie dessen Onkel, der eine leitende Funktion in einer inzwischen geschlossenen Gülen-Schule gehabt haben soll. Als Beweis, dass Altindas der Gülen-Bewegung angehörte, führen Erdogan-treue Medien an, dass er eine Nachhilfeschule der Gülenisten besucht habe und seine Ausbildung von einem inzwischen flüchtigen Geschäftsmann der "Bewegung" finanziert worden sei. Dies seien Indizien, die durchaus für eine Urheberschaft der Gülenisten sprechen könnten, aber keine belastbaren Beweise, urteilen kritischere Medien.

Die liberalkonservative "Hürriyet" enthüllte, dass Altindas seit dem Putschversuch mindestens acht Mal an Einsätzen der Sondereinsatzpolizei zum Schutz Erdogans bei Veranstaltungen in Ankara teilnahm. Die linke Zeitung "Cumhuriyet" fragt, wie es möglich sei, dass Altindas mit seiner Biografie den umfangreichen "Säuberungen" nach dem Putschversuch entgehen konnte - zumal er 2015 wegen seiner Kontakte zu Gülenisten überprüft, aber offenbar für "sauber" befunden wurde. Zur Gülen-Version passt allerdings nicht, dass der Attentäter nach dem Anschlag rief, er habe Rache für den Fall Aleppos genommen: "Vergesst Aleppo nicht!"

Gülenisten machten mit den Dschihadisten in Syrien nie gemeinsame Sache. Ebenso rätselhaft ist, dass Altintas dabei den linken Zeigefinger in die Luft reckte - das Symbol der Dschihadisten ist der rechte Zeigefinger. Er wirke wie ein "Möchtegern-Dschihadist", heißt es dazu auf der Nahost-Webseite "Al Monitor". Möglich ist, dass er sich selbst radikalisierte, ohne Hintermänner zu haben. In seinem Facebook-Account äußerte er sich mehrfach kritisch über die Angriffe auf Aleppo, die in der Türkei zu Massendemonstrationen gegen Russland und den Iran geführt haben. Doch dazu scheint wiederum die professionell wirkende Vorbereitung und Durchführung der Tat nicht zu passen. War er ein Gülenist, der sich als Dschihadist tarnte? Hatte er Helfer? Drei Tage nach dem Attentat von Ankara bleiben deutlich mehr Fragen als Antworten.