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Unermüdlicher Fragensteller

Von Evelyne Polt-Heinzl

Reflexionen

Peter Handke, der am 6. Dezember 70 Jahre alt wird, setzt mit seinem Werk der unreflektierten Fortschrittsbegeisterung ein Schreib-Projekt der Sorgfalt und des Aufbewahrens entgegen.


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Das hat heuer manche Kritiker zum Staunen gebracht: Nach mehr als zwei Jahrzehnten schreibt Peter Handke eine Fortsetzung seiner literarischen Versuche - nach jenen über die Müdigkeit, die Jukebox und den geglückten Tag -, nennt das Ganze "Versuch über den Stillen Ort" und meint damit tatsächlich jenen, dem so gern ein "-chen" angehängt wird.

Komplexe Poetologie

Dabei hätte man es wissen können, schließlich hat Handke vor vielen Jahren in einem Nebensatz angedeutet, dass das durchaus ein lohnendes Thema der Refle- xion sein könnte. Das ist nicht neu: Schon an seinem ersten Roman, "Die Hornissen" (1966), erstaunt im Rückblick, wie viele Themen hier bereits angedacht sind, die im Lauf der Jahrzehnte dann Handkes komplexe Poetologie formen und prägen werden.

Niemand aber kann sich in dieser feinen und intelligent komponierten Art besagtem stillen Ort nähern wie Handke. Lebenskonstanten seines Werks, wie etwa die schwierige Balance zwischen gesellschaftlicher Teilhabe und Distanzbedürfnis, sind hier ebenso zu finden wie eine fast beiläufige "Entschlüsselung" dieses speziellen Ortes, denn es hat System, wie die streng geometrischen Muster der westlichen Klo-Kultur die dort stattfindenden Prozesse der so gar nicht abgezirkelten menschlichen Kreatürlichkeit überkacheln. (Zu "Versuch über den Stillen Ort" siehe auch Beitrag aus dem "extra" vom 1./2. Dezember)

Das ist vielleicht eine der am wenigsten beachteten Seiten von Handkes Werk: die große Sensibilität für gesellschaftspolitische Entwicklungen - sie hinterlässt Spuren in allen seinen Büchern, keineswegs nur im Frühwerk, das gemeinhin als zeitkritisch gelesen wird. In Phasen gesellschaftspolitischer Umbrüche werden mitunter Figuren als Repräsentanten des neuen Lebensgefühls wahrgenommen, die das vielleicht nur zufällig sind und sich - wie Handke - rasch in der ihnen zugedachten Rolle nicht mehr wiederfinden. "Als ich die ‚Publikumsbeschimpfung‘ geschrieben habe, war ich wirklich das reine Kind meiner Zeit", sagte Handke in einem Interview.

"Handkemenge"

Das Bild des in seiner Zeit zu Hause Seins trifft den medienstarken Auftritt des jungen Peter Handke 1966 - bei der Gruppe 47 in Princeton und mit seinem Erfolgsstück "Publikumsbeschimpfung" - ziemlich genau und erklärt seine lebenslange Auseinandersetzung mit der Frage der Zeitgenossenschaft. Handke war ein Kultautor des Aufbruchs im Zeichen der Popkultur, der - lange vor Autoren wie Benjamin Stuckrad-Barre - die Jugend mobilisierte. Als 1971 zu einer Lesung von Handke und anderen Autoren mehr als tausend jugendliche Besucher in die Grazer Neue Galerie drängten, wurde dem verspätet eintreffenden Handke von einem Polizisten der Zutritt verwehrt. "Handkemenge" titelte "Die Zeit" damals spöttisch.

Während Handke in seinen frühen Arbeiten wie "Kaspar" oder "Die Unvernünftigen sterben aus" den Missbrauch der Sprache zur Behübschung von Herrschaftsstrukturen thematisierte, öffnete er 1972 mit "Wunschloses Unglück" den Blick auf Figuren und Milieus, die in der Literaturgeschichte meist nur in kurzen Phasen als literaturfähig gelten. "Es wird wieder erzählt!" Das ruft die Kritik meist dann, wenn sie den Anschluss an Erzählkonzepte verpasst hat und plötzlich wieder auf anspruchsvollere Romane stößt, deren Inhalt gut nacherzählbar ist; zuletzt war das Anfang der 1990er Jahre mit den Publikumserfolgen von Daniel Kehlmann oder Thomas Glavinic der Fall, zum ersten Mal 1959 bei Günter Grass’ "Blechtrommel" - und dann bei "Wunschloses Unglück".

Tatsächlich wurde das Buch zum Auftakt für ein neues Erzählen, aber das Neue bezog sich damals auf die soziale Perspektive in den vielen Dorfbesichtigungen und Elternbefragungen der 1970er Jahre. Handke schildert das Leben seiner Mutter im Kontext ihrer Kärntner Keuschlerherkunft mit slowenischen Wurzeln und den Lebensverwicklungen durch die Zeitgeschichte, und daraus entsteht eine literarische Analyse der strukturellen Gewalt, die das Leben der Benachteiligten immer prägt und dabei so schwer namhaft zu machen ist.

Seit "Wunschloses Unglück" ist auch evident, wie sehr Krieg und Faschismus die Folie von Handkes Schreiben bilden. Überblendungen mit Kriegshandlungen, die den Landschaften und Gedächtnissen seiner "Buchgegenden" eingeschrieben sind, finden sich schon lange vor seinem Entsetzen über den Kriegsschauplatz Jugoslawien mitten in Europa. "Die Überlebenden sehen die Gnadenbilder", notiert Handke einmal, auf ein "Nur" am Satzanfang verzichtend, das er aber stets präsent hält.

1981, als der Begriff Urbanität im Feuilleton vermehrt auftaucht, die Alternativbewegung um Zugang im öffentlichen Stadtraum kämpft und alle erwartungsfroh auf die Metropolen starren, empfiehlt Handke "Über die Dörfer" zu gehen - und tut es selbst. Für den ländlichen Raum interessierte sich damals niemand, die Natur war noch kein Jogger-Gelände der gebildeten Mittelschicht. So merkte kaum jemand, dass hier, nach den ökonomisch motivierten Flurbegradigungen der Nachkriegsjahre, gerade der zweite finale Modernisierungsschub unter dem Titel "Dorferneuerung" einsetzte. Der fegte die letzten Reste alter Dorfstrukturen hinweg und überzieht die "Gegend" seither mit einem dichten Gitter aus Supermärkten, Autobahnen und Betriebsansiedlungen aller Art.

Verdrängen kann man also nicht nur die NS-Vergangenheit, sondern auch die eigene Herkunft aus bescheidenen ländlichen oder kleinstädtischen Verhältnissen, aus denen sich dank der Kreiskyschen Bildungsreform erstmals in der Geschichte Österreichs das Gros der jungen Intellektuellen rekrutierte.

Blick für Soziales

Peter Handke hat seine Herkunft nie verleugnet: sie bestimmt sein Selbstverständnis wie seine Sehgewohnheiten. Wer sich beim Anblick einer leeren "NIVEA-Dose" erinnert, "daß derartiges einst fast ein Kleinod war", behält einen Blick für Soziales. Die Internatsjahre brachten dem Keuschlerkind nicht nur die Erfahrung des Außenseiters, sondern auch der Entfremdung von allen Dorfbewohnern, denen ein Ausbruch in die Welt der Bildung, Kunst und Phantasie verwehrt bleibt. Soziale Aufsteiger aber behalten oft ihr Leben lang eine Unsicherheit im neuen Milieu, und das meint hier nicht Fragen der Etikette, sondern etwas Prinzipielleres. Wer weiß, was alles für das Leben so vieler nicht von Bedeutung ist bzw. sein kann, gerät in Rechtfertigungsnotstand, weshalb er es dennoch für (über-)lebenswichtig hält, wie zum Beispiel die Literatur. Handkes Werk durchzieht eine dichte Spur von phantasierten Richtersprüchen, dass sein Werk "ungültig" sei und "der ärgste der Frevel, auf welchen . . . die Verdammnis stand". So wird es im wiederkehrenden Albtraum dem Erzähler in "Nachmittag eines Schriftstellers" verkündet.

Langsamkeits-Tetralogie

"Die Langsamkeit ist das Geheimnis", darauf verweist schon der Titel seiner Erzählung "Langsame Heimkehr", die Handke mit "Über die Dörfer", "Die Lehre der Sainte-Victoire" und der "Kindergeschichte" zur Tetralogie zusammenfasste. Doch das immer rasantere Tempo der Leistungsgesellschaft wurde erst Jahre später als gesellschaftspolitisches Pro-blem benannt, "Entschleunigung" war 1980 noch nicht en vogue. Ein "Geh langsam!" in Handkes Epos "Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos" las ein Kritiker noch 2002 als "atavistische Handlungsanleitung". 1980, als die ökonomische Lage noch gut und die Stimmung optimistisch war, war es noch gänzlich unverständlich. Von der Literatur, so schreibt Handke in seinem Essay "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms", "sind mir Sachverhalte gezeigt worden, deren ich nicht bewußt war oder in unbedachter Weise bewußt war. Die Wirklichkeit der Literatur hat mich aufmerksam und kritisch für die wirkliche Wirklichkeit gemacht."

Handkes Tetralogie "Langsame Heimkehr" bearbeitete in diesem Sinn etwas, das der Gesellschaft "in unbedachter Weise bewußt" war und ein Unbehagen vorwegnahm, das erst in den 1990er Jahren zum Thema wurde.

Die Zeitgenossen konnten das noch nicht so sehen. Anfang der 1980er Jahre wandten sich viele Handke-Leser, denen er bis dahin als Autor ihres eigenen Lebensgefühls galt, von ihm ab, um erst später wieder zu ihm zurückzukehren - vielleicht schon mit "Die Wiederholung" (1986), mit einem seiner schmalen Essay-Bände oder erst mit "Mein Jahr in der Niemandsbucht" (1994). Während Handkes bisher umfangreichstes Werk, "Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos", wiederum zwiespältig aufgenommen wurde, landeten "Don Juan (erzählt von ihm selbst)" (2004), "Gestern unterwegs" (2005) und "Kali" (2007) allesamt in den Bestsellerlisten. "Die Morawische Nacht" wurde 2008 für die Longlist zum Deutschen Buchpreis nominiert; der Jury schien es angemessen, Handkes Monumentalwerk mit Büchern von Rolf Lappert, Dietmar Dath, Norbert Niemann oder Karl-Heinz Ott ins Rennen zu schicken. Immerhin zeigen solche Nominierungen, dass mittlerweile viele der einst unwilligen "Pathos"-Kritiker zu einem geduldigeren Lesen bereit sind. Schließlich ist die massenmedial vorangetriebene Verwüstung der Sprache unübersehbar geworden; das erhöht die Sensibilität für die sorgfältige Arbeit eines "Wortklaubers" wie Handke.

Er stellt unermüdlich die Frage, was im Lauf des Zivilisationsprozesses alles falsch gelaufen ist, und setzt unreflektierter Fortschrittsbegeisterung ein Schreib-Projekt der Sorgfalt entgegen - und danach besteht, zumindest "in unbedachter Weise bewußt", ein gesellschaftliches Bedürfnis. Die Entwertungsgeschwindigkeit ist längst aus den Waren- und Modezyklen in das psychische Erleben der Menschen eingewandert. Wo nur mehr das Neue und jeweils Letzte zählt, trifft die Entwertung auch die individuelle Erinnerung wie das kollektive Gedächtnis und verunmöglicht ein sich Beheimaten im eigenen Lebenskontext. Handkes Schreiben bewahrt vieles auf, was aktuell nicht zählt, wie die Brachflächen in den urbanen Randlagen. Was er beschreibt, ist oft aus allen ökonomischen und medialen Verwertungszusammenhängen herausgefallen, seien es Gesten, Haltungen, Dinge, Wörter oder kulturelle wie literarische Formen und Muster.

Im Motiv vom "Bildverlust" persifliert Handke dieses "Bilder"-Schreiben als Windmühlenkampf gegen die medial vermittelte Weltwahrnehmung. Durch funkgestützten Dauerbeschuss mit Bildern wollen die Behörden in dem Roman eine Ausbreitung der Krankheit verhindern, was in der Muldenlage der Enklave auf technische Schwierigkeiten stößt. Die befürchtete Pandemie freilich ist ein Mediengag wie Schweinepest oder Vogelgrippe, denn es sind nur verschrobene Außenseiter, die sich hierher zurückgezogen haben, und Handke graviert in ihre Schrulligkeit auch ein ironisches Selbstbildnis ein. "Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos" ist der Versuch einer utopischen "Reconquista" der vom Gang der Zeiten überrollten Lebensformen und -haltungen und fügt sich damit ein in Handkes Arbeit an einem Katalog der Verlusterlebnisse der Moderne.

Gegen Ende der voluminösen Chronik "Mein Jahr in der Niemandsbucht" findet sich eine unscheinbare Bemerkung. Eines Tages wird dem Chronisten bewusst, dass die Niemandsbucht gar keine Bucht ist, sich zumindest nicht gegen das Umland abgrenzt. Das hebelt die gesamte Kulisse aus und lässt sie in sich zusammenstürzen wie ein Kartenhaus. Was hier noch in einem Nebensatz verborgen ist, gewinnt gut ein Jahrzehnt später an Radikalität. "Die Morawische Nacht" erzählt vom Scheitern als Mensch, Künstler und als Zoon politikon und ist ein furioses Spiel mit Autorenanmaßung, Realitätspartikeln und Spuren aus Leben und Werk des Autors. Im Schlussbild aber zeigt Handke sein sorgfältig errichtetes Erzählgebäude als Kulissenzauber und kippt das Ganze in die Inexistenz - nicht Irrealität! - eines Tagtraums.

Der "Fragenarr"

"Wer oder was war schimärisch, die Welt? Das Zeitalter? Ich?" lautet eine der unbeantworteten Fragen, die Handke immer häufiger zulässt. Das ist nicht ein zunehmend unsicheres Erzählen, sondern ein gelasseneres, das mehr im Offenen belassen kann und damit den "Zwischenräumen" im Text neue Möglichkeiten erobert. Eine "heutige Reise-Figur", so Handke in "Gestern unterwegs", ist der "Fragenarr", den der Autor in seinem Schreiben mittlerweile fest verankert hat. "Der Palast des Fragens muß neu aufgebaut werden. (. . .) Die Phantasie des Fragens darf nicht gefesselt bleiben. Der Frage-Kirschgarten darf nicht abgeholzt werden", heißt es mit einer Verbeugung vor Hans Christian Andersen, Ferdinand Raimund und Anton Tschechow in "Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land".

Das Epos für die Gegenwart zurückzuerobern und mit neuen Inhalten und Valenzen aufzuladen, daran arbeitet Handke seit vielen Jahren. Mit "Immer noch Sturm" schrieb er 2010 das Epos der Kärntner Slowenen, in das viele Motive und Themen aus seinem Werk münden. Mit gutem Grund haben Klaus Amann und Fabjan Hafner dieses Stück ins Zentrum der Erweiterung des Handke-Museums in seiner Heimatgemeinde Griffen gestellt, die zum Geburtstag des Autors eröffnet wird.

Evelyne Polt-Heinzl, geboren 1960, ist Literaturwissenschafterin und -kritikerin. 2011 ist von ihr der Band "Peter Handke - In Gegenwelten unterwegs" im Verlag Sonderzahl erschienen, wo soeben auch das Buch "Österreichische Literatur zwischen den Kriegen. Plädoyer für eine Kanonrevision" herausgekommen ist.