Gaza ist Schauplatz einer humanitären Tragödie und diese Nährboden für einen neuen Schub an Radikalisierung.
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Gaza. Nur ein paar Augenblicke nach jeder erneuten Ankündigung eines Waffenstillstandes herrscht auf dem Strand vor Gaza-Stadt eine Art Belagerungszustand: Kleine Buben nutzen jeden Moment, um scharenweise in den Wellen zu toben. Auch exakt an jener Stelle, wo am 15. Juli vier Kinder starben, als eine Rakete hier einschlug. So wohltuend sich diese Oase von Normalität auch anfühlen mag: Sie sind trügerisch - in vielerlei Hinsicht. So zerstörte ein Angriff der israelischen Armee vor wenigen Tagen die Kläranlage Gazas. "Das Abwasser von 1,8 Millionen Menschen wurde mit einem Ruck ins Meer gespült", klagt Nezar Hijazi, der Bürgermeister von Gaza-Stadt.
Die Infektionsgefahr im Meer, das Risiko des Ausbruchs von Epidemien, ist nur eine Facette des Alptraumes, den Gaza seit Beginn des Konfliktes zwischen Israel und der Hamas erfasste. Verwesungsgeruch macht sich breit; zeugt von den vielen Toten, die nach wie vor unter den Trümmern der 6800 zerstörten Häuser begraben sind. "Uns fehlt die entsprechende Ausrüstung, um die Leichen zu bergen", sagt Sadi al-Saoudi, der Leiter der Behörde für Zivilschutz.
Jedes dritte Spital zerstört
Knapp 2000 Menschen starben im Gazastreifen bislang in dem Konflikt, nach UN-Angaben handelt es sich bei 72 Prozent der Toten - 1400 Menschen - um Zivilisten. 467 Kinder sind unter den Opfern; unter den 9870 Verletzten sind ein Drittel Kinder.
"Wir sind mit einem Desaster einer unfassbaren Größenordnung konfrontiert", lautet die erste Bilanz von James Rawely, der den Hilfseinsatz der Vereinten Nationen in Gaza verantwortet. "Die noch funktionierenden Spitäler sind vor dem Zusammenbruch. Ein Drittel der Krankenhäuser ist zerstört, ebenso wie 14 Kliniken, die Patienten ambulant betreuen konnten. 29 Rettungswägen wurden getroffen." Dazu sind zahlreiche Ärzte gestorben; alleine 21 Ärzte und Krankenpfleger des größten Spitals in Gazas, des Al-Shifa-Spitals.
Immer wieder wird dieses Krankenhaus von einem Strom von Verletzten überwältigt. Nur fünf Stunden am Tag können auch Schwerverletzte im Spital selbst behandelt werden. Lediglich wer ohne medizinische Hilfe sofort sterben würde, kann bleiben. Es sind Patienten wie der dreijährige Mohammed Wadi. Er lebte in der Stadt Beit Hanoun im Norden Gazas. Die Gegend um das Haus der Familie zählt zu jenen Regionen des Streifens, die regelrecht verwüstet wurden. "Ein Schrappnel einer Bombe hat seinen Bauch getroffen", sagt Inass Wadi, seine Mutter, schiebt das T-Shirt des Buben hoch: "Seine Därme sind so verletzt, dass er nichts mehr essen kann", sagt sie.
Wie es weitergeht, weiß sie nicht. Wie kaum jemand hier. Nur ein Dutzend der Kinder in kritischem Zustand könnten außerhalb des Gazastreifens gebracht und versorgt werden. Trotz aller Not ist die Blockade der winzigen Region - die nur knapp größer ist als das Stadtgebiet von Wien - nach wie vor in Kraft. Seit dem Krieg von 2009 ist Gaza im Belagerungszustand. Das Ziel dieser Maßnahme ist die Hamas-Regierung. Der bewaffnete Arm der Gruppe feuerte unentwegt - auch schon vor dem Krieg - Raketen auf Israel. Getroffen werden damit aber vorwiegend die eigenen Leute.
Verhandlungen zur Aufhebung der Blockade scheiterten, der Krieg schnürte die letzten Lebensadern ab. Jetzt steht dieses Thema im Zentrum der Friedensgespräche in Kairo. Wird die Blockade weiter aufrechterhalten, droht der Konflikt endlos weiterzugehen, warnen Vertreter der UN wie James Rawely.
Der politische Druck wird nun auch von Verbündeten der Hamas verstärkt. Wie bereits 2009, kurz nach dem Ende des letzten Gaza-Krieges, kündigt nun die Türkei an, mithilfe einer Hilfsflotille die Belagerung zu durchbrechen.
Zerrieben zwischen den Fronten dieses Krieges, versucht unterdessen die überlebende Bevölkerung im Gazastreifen ihr Leben irgendwie wieder in den Griff zu bekommen. Ein Drittel der Bevölkerung ist auf der Flucht vor weiteren Bombardements, die bereits 68.000 Häuser zerstörten. Unter den Obdachlosen sind auch zahlreiche Schwangere; jede vierte Frau, die ein Kind erwartet, ist derzeit obdachlos. Im Al-Shifa-Spital wird ein sprunghafter Anstieg von Frühgeburten registriert; zuletzt waren es um 20 Prozent mehr als vor dem Krieg.
Das Trauma Krieg trifft die Schwächsten mit voller Brutalität, veränderte wie ein Erdbeben Land und Menschen. Nicht alle Buben zieht es noch an den Strand. Regungslos sitzt etwa der achtjährige Mahmoud Amash auf dem Trümmerberg, der in Beit Hanoun an jenem Ort liegt, wo einst sein Haus stand. Gedankenverloren wirft er Steine in den Krater. Nichts, sagt seine Mutter, könnte ihn hier wegbringen.
Wachsende Verbitterung
Die Zerstörung in diesem Krieg hätte so viel verändert, meint Asmaa al-Goul, eine Journalistin, die vor sieben Jahre weltweit bekannt wurde, als sie in einer Zeitung in Gaza die Raketen-Taktik der Hamas offen kritisierte. Sie kam in massive Bedrängnis, weil sie eine Meinung äußerte, die viele insgeheim teilten. "Israel hat durch sein Vorgehen tausende, vielleicht sogar Millionen von Anhängern der Hamas geschaffen." Neun ihrer Verwandten sind nun tot. Darunter ein zweijähriger Bub. Gleich, wie sehr man die Hamas noch immer kritisieren müsste, dafür, dass sie Raketen aus Wohnanlagen abfeuern, meint sie verbittert: "Über Frieden mit Israel braucht man mit mir nicht mehr sprechen."