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Ungarische Roma im Teufelskreis der Armut

Von Edith Oltay

Politik

Seit der Wende hat sich die soziale Situation der Roma in Ungarn dramatisch verschlechtert. Die Zahl der Roma, die unterhalb des Existenzminimums lebt, erhöhte sich von 32,8% im Jahr 1990 auf 72,8% Ende 2002.


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Laut einer jüngst veröffentlichten Studie haben lediglich 25% der erwachsenen Roma Arbeit, und nur 5% absolvieren eine Ausbildung. 70% sind erwerbsunfähig oder inaktiv, das heißt, sie sind arbeitslos, Frührentner oder mit Kindererziehung beschäftigt. Die Zahl der Frührentner ist erstaunlich hoch. In der Altersklasse 40-46 finden sich mehr als 20% Frührentner, in der Gruppe 54-60 sind es dreimal soviel. Sicher sind eher gesundheitliche Probleme als soziale Not der Grund für diese enorme Größenordnung. So liegt z.B. die Lebenserwartung der Roma um 10 bis 15 Jahre niedriger als die der übrigen Bevölkerung.

Leben an der Armutsgrenze

Die Anzahl arbeitsloser Roma ist seit der Wende sprunghaft angestiegen, auch weil die Arbeitsplätze, die sie mit ihrer meist nur gering qualifizierten Ausbildung besetzen konnten, abgebaut wurden. Das Durchschnittseinkommen der berufstätigen Roma beträgt 60.000 Forint und liegt damit nur knapp über dem Minimallohn. Diskriminierung der Roma ist in der ungarischen Gesellschaft nach wie vor weit verbreitet. Roma klagen über Diskriminierung im Gesundheitswesen, in den Schulen sowie bei der Arbeits- und Wohnungssuche.

Die Roma sind die größte und am schnellsten wachsende Minderheit in Ungarn und sogar in Europa. Europaweit wird ihre Zahl auf über acht Millionen geschätzt. Nach einem aktuellen Bericht der Vereinten Nationen leben sowohl in Ungarn als auch in der Slowakei und in Tschechien viele Roma "in absoluter Armut", d.h. sie müssen pro Tag mit weniger als einem US-Dollar auskommen. In Ungarn hat sich die Zahl der Roma zwischen 1971 und 2003 verdoppelt und wird jetzt auf 600.000 oder fast 7% der Bevölkerung geschätzt. Lediglich geschätzt deshalb, weil sich bei Volkszählungen nur wenige zu ihrer Zugehörigkeit zu den Roma bekennen.

Mit der zunehmenden Verarmung der Roma ging auch eine Verschärfung ihrer soziale Probleme einher. Die Kriminalität der Roma wird von der Bevölkerungsmehrheit zunehmend als bedrohlich empfunden. Diese Wahrnehmung führt zu erhöhten Spannungen zwischen der Mehrheit und der Minderheit und zur sozialen Ausgrenzung der Roma. Das verbreitete Vorurteil ist, daß Roma arbeitsscheu sind, viele Kinder haben und ihren Lebensunterhalt aus Sozialhilfe finanzieren. Die Studie zeigt dagegen, dass auch Roma kein Interesse daran haben, von Sozialhilfe zu leben, weil sie einsehen, dass sich ihre finanzielle Lage verbessert, wenn beide Elternteile arbeiten und sie nur wenige Kinder haben.

Die Studie weist auch nach, dass das traditionelle starke soziale Netz der Roma, das Alte und Bedürftige auffängt, der Vergangenheit angehört. Fast 40% der alten Roma leben nicht im Kreis ihrer Familie, sondern allein. Die Menschen verlassen sich also eher auf ihre eigenen Fähigkeiten, als auf die Hilfe der Gemeinschaft.

Schlüssel Bildungswesen

Die ungarischen Behörden und Zivilorganisationen sind sich einig, dass der Weg des Aufstiegs der Roma über das Bildungswesen führt. Fast 3O% der Roma besitzen keinen Hauptschulabschluss, und nur etwas mehr als ein Zehntel machen die Matura. Die Roma, die unter ghetto-ähnlichen Umständen oder getrennt von der Mehrheit der Bevölkerung leben — in etwa die Hälfte — haben eine viel niedrigere Ausbildung, als diejenigen, die in gemischten Wohngegenden angesiedelt sind. Die Wohngegend allerdings hängt wiederum von der finanziellen Lage der Familie ab. Dies ist ein Teufelskreis, den die Studie als "die Armutsfalle" bezeichnet.

Viele Roma Kinder kommen aus sozial benachteiligten Familien, ihnen fehlen ausreichende Sprachkenntnisse, regelmäßige Mahlzeiten und Förderung innerhalb der Familie. Diese Kinder werden oft von den Schulbehörden in Spezialschulen für Lernbehinderte abgeschoben, wo der Anteil der Roma 80 bis 90% beträgt. Das Programm der Sonderschulen bereitet die Schüler nicht auf eine spätere Ausbildung oder Integration in das traditionelle Schulsystem vor. Die Schulen gelten deshalb als Sackgasse. Menschenrechtsorganisationen verurteilen die Praxis der Abschiebung als Segregation. Ein positives Beispiel stellt jedoch das Gandhi Gymnasium dar, das sich ausschließlich der Bildung der Roma widmet. 1994 von dem gleichnamigen Verein gegründet, fördert die Bildungsstätte die Sprache, Kultur, Geschichte und Lebensführung der Roma. Das Gymnasium bereitet die Schüler auf eine höhere Ausbildung vor und fördert die Bildung einer Roma-Elite.

Die jeweiligen ungarischen Regierungen initiierten zahlreiche Programme, um den Lebensstandard der Roma zu erhöhen und um sie stärker in die Gesellschaft zu integrieren. Diese Pläne brachten aber nur wenig Erfolg. Die finanziellen Mittel reichten nicht aus, und oft wurden Programme auf der Lokalebene nicht ausreichend unterstützt oder mangelhaft umgesetzt. Häufig fehlten auch die notwendigen Kontrollen über den Einsatz der Finanzmittel. Roma Organisationen, die die Mittel überwachen oder verteilen sollten, sind oft zerstritten und verlieren daher den Überblick. Die zwei größten Roma-Organisationen sind, wie die ungarische Parteilandschaft, in zwei Lager (sozialdemokratisch/rechtskonservativ) gespalten und oftmals zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie gemeinsam nach außen für Roma Interessen eintreten könnten.

Hoffnung durch EU-Vertreter

Obwohl über anderthalb Millionen Roma seit Mai 2004 Mitglieder der EU sind, können sie kaum auf eine schnelle Verbesserung ihrer Lage hoffen, weil es in der EU keine verbindlichen Standards für die Rechte und den Schutz von Minderheiten gibt. Die Roma können sich nicht auf eine Schutzmacht oder auf ein Regelwerk stützen, mit denen sich die EU arrangieren müsste oder an die sie gebunden wäre. Das Roma-Problem ist das schwerwiegendste Minderheitenproblem in der neuen EU.

Zumindest die ungarischen Roma werden aber eine Vertreterin im Europäischen Parlament haben. Livia Jaroka zieht mit einem Mandat der rechtskonservativen Partei Bund der Jungen Demokraten FIDESZ nach Brüssel. Jaroka wird im EU Parlament die erste Abgeordnete sein, die unmittelbar Roma Interessen vertritt.