Populismus gegenüber der Großfinanz; Steuererleichterungen für Familien.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Budapest. Neulich, im Morgengrauen, wurden die Bewohner der Budapester Lehel-Straße von einem lauten Knall geweckt. Vor einer Bankfiliale war ein Sprengkörper explodiert, der Eingangsbereich wurde zerstört. Der vom Überwachungssystem gefilmte Attentäter nahm nichts mit, im Safe fehlte nachher kein Geld, sein Motiv blieb unklar. Sofort waren aber Ungarns Internet-Foren voller Sympathieerklärungen für den Täter. Hier artikulierte sich der lange angestaute und auch von der Regierung Viktor Orbáns geschürte Hass auf die Banken.
Drei Monate vor der Parlamentswahl, die der rechtsnationale Orbán allen Prognosen zufolge gewinnen wird, wähnen sich viele Ungarn den Machenschaften der internationalen Großfinanz ausgesetzt. Orbán gelingt es, in für viele glaubhafter Weise die Schuld an den Problemen des Landes anderen zuzuschieben. Die EU kritisiert Orbán, weil er die Kompetenzen der Justiz und die Pressefreiheit beschnitten hat. Dafür, dass eine Viertelmillion Ungarn in eine Schuldenspirale geraten sind, macht Orbán zumindest rhetorisch die Banken verantwortlich und nicht die Kunden, die sich an zehn Fingern hätten ausrechnen können, dass Fremdwährungskredite wegen der Wechselkurs-Schwankungen riskant sind.
Gegen diese Sicht der Dinge macht auch die links-liberale Opposition kaum Front, angesichts der erdrückenden Zahl der Betroffenen. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass etwa die aktuellen Spannungen mit Österreich wegen der Agrar-Pachtverträge in Ungarn, die Orbáns Regierung für ungültig erklären lassen will, als Wahlkampfthema kaum eine Rolle spielen. Dies sind für den ungarischen Durchschnittsbürger Probleme, die Ausländer betreffen, nicht ihn selbst.
Was hat Orbán den Ungarn in den vier Jahren seit seiner von ihm so genannten "Revolution in den Wahlkabinen" gebracht? Ein schlechtes Image in Westeuropa wegen seiner Angriffe auf demokratische Mechanismen. Nationalistischen Kitsch in der Präambel der neuen Verfassung. Er hat das Wort "Republik" aus dem offiziellen Namen Ungarns gestrichen. Er hat die Abgründe der Übermacht vorexerziert, die sich aus der parlamentarischen Zweidrittelmehrheit seiner Partei Fidesz ergibt: Mehrfach wurden Regelungen, die das Verfassungsgericht gekippt hatte, kurzerhand in der Verfassung verankert. Zugleich sorgte er für seine Klientel: Die parteinahe Firma Közgép bekam viele Staatsaufträge.
Orbán will Jobbiknoch übertönen
Orbán hat Medien, Kulturbetrieb und Unterrichtswesen gegängelt. Rechtsradikale Autoren wie Albert Wass und Jozsef Nyirö wurden in den Lehrplan aufgenommen. Staatsbeamten müssen Fidesz-Linientreue beweisen, denn sie können nach einer von Orbán durchgesetzten Regelung jederzeit ohne Begründung entlassen werden. Immer wieder versucht Orbán, die rechtsradikale Parlamentspartei Jobbik mit nationalistischem Pathos zu übertönen.
Jobbik pflegt zugleich seit Monaten eine eher auf die gesellschaftliche Mitte abzielende Imagekampagne - man will salonfähig erscheinen für junge, gebildete Ungarn. Jobbik stagniert derzeit bei 6 bis 10 Prozent. Willkürlich arbeitet Orbán unterdessen an einem neuen Geschichtsbild, etwa durch die laufende Umgestaltung des Parlamentsplatzes, der danach wie in den autoritär regierten Vorkriegszeiten aussehen soll.
Außenpolitisch sucht Orbán die Gunst Russlands und Chinas, weil er von dort Gelder erhofft, die - anders als die Brüsseler Mittel - ohne lästige Bürokratie fließen. Hierbei folgt er einem Trend in der Region. Erst vor kurzem konkretisierte sich dies in einer milliardenschweren Vereinbarung mit Russland zum Ausbau des Atomkraftwerks Paks, über dessen Auswirkungen die Fachleute noch rätseln. Dies solle langfristig die Energiepreise senken - Orbáns Lieblingsthema. In mehreren Schritten hat er bereits die Energiedienstleister dazu gezwungen, die Preise zu senken. Orbán nennt dies abwechselnd "unorthodoxe Wirtschaftspolitik" und "wirtschaftlichen Freiheitskampf".
Orbán hat aber auch getan, was seine links-liberalen Vorgänger sträflicherweise unterlassen haben: Er hat Steuererleichterungen für Familien eingeführt, die in vielen westeuropäischen Ländern längst selbstverständlich sind. Experten meinen allerdings, dass sich dadurch die Steuerlast insgesamt nicht verändert hat - sie wurde lediglich anders verteilt.
Zugute kommt Orbán auch, dass sich die Wirtschaft beim Haupt-Exportpartner Deutschland erholt hat - dadurch verzeichnet auch Ungarns Konjunktur einen leichten Aufschwung. Die Arbeitslosenrate sank im vorigen Jahr um 1,3 Prozentpunkte auf 9,3 Prozent. Beobachter gehen davon aus, dass dies auch daran liegt, dass hunderttausende Ungarn Arbeit im Ausland gefunden haben.
Was hat die Opposition dem entgegenzusetzen? Das links-liberale Oppositionsbündnis mit dem Sozialistenchef Attila Mesterházy an der Spitze konzentriert sich darauf, Orbáns Sündenregister immer wieder durchzudeklinieren - hat aber kaum inhaltliche Gegenvorschläge zu bieten, an denen ein Ungar erkennen könnte, wie künftig die Butter aufs Brot kommen soll. Die Wirtschaftswochenzeitung "HVG" berichtete jüngst aus ungenannten Quellen seitens des Mesterházy-Lagers, dass das Bündnis die Wahl ohnehin für verloren halte.
Zweidrittelmehrheit wenigstens verhindern
Ihr kühnster Traum sei es, Orbán wenigstens um seine Zweidrittelmehrheit zu bringen. Das Bündnis besteht aus drei Parteien: Mesterházys MSZP, die in den Umfragen auf 10 bis 16 Prozent kommt, dem Verband Együtt-PM des Ex-Premiers und Wirtschaftsfachmanns Gordon Bajnai sowie der demokratischen Koalition (DK) des schillernden Ex-Premiers Ferenc Gyurcsány. Együtt-PM trauen die Umfragen 3 bis 7 Prozent zu, DK liegt bei 3 bis 4 Prozent. Einzeln müssten Bajnai und Gyurcsány demnach wegen der Fünf-Prozent-Hürde um den Einzug ins Parlament bangen. Dem gegenüber liegt Orbáns Fidesz bei 28 bis 37 Prozent. "Stärkste Partei" sind sozusagen die Unentschlossenen, die bis zu 42 Prozent ausmachen.
Freimütig räumte jüngst der Ko-Präsident von Együtt-PM, Viktor Szigetvári ein, dass das Dreier-Bündnis keine gemeinsame Vorstellung von der Steuer- und Sozialpolitik habe. Dabei liegen die Themen vor der Haustür: 37 Prozent der Ungarn leben laut Untersuchungen in äußerster Armut, etwa 600.000 haben gar kein Einkommen. Von insgesamt zehn Millionen Ungarn haben rund eine Million kein fließendes Wasser in ihrer Wohnung. Ganze Regionen, vor allem im Norden und Osten des Landes, sind bitterarm. Ein Entwicklungskonzept ist nicht in Sicht, weder bei Regierung noch bei der Opposition.