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Ungarn gibt nun das Tempo vor

Von Peter Kantor

Europaarchiv

Ungarn steht unangefochten an der Spitze der mittel- und osteuropäischen Länder (Moel), die in der für 2004 angepeilten Erweiterungsrunde der EU beitreten sollen. Diese Überzeugung vertrat Sandor Richter, Experte für EU-Erweiterung und Ungarn beim Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) in einem Gespräch mit der "Wiener Zeitung".


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Den Termin 1. Jänner 2004 als Start der EU-Erweiterungsrunde um die mittel- und osteuropäischen Länder sollte man dabei nicht allzu ernst nehmen, empfiehlt Richter. Tatsächlich werde die Erweiterung erst Anfang 2005 über die Bühne gehen, mit einer gewaltigen politischen Kraftanstrengung im Sinn einer guten Optik vielleicht beim EU-Gipfel im Dezember davor.

Für die österreichisch-ungarischen Beziehungen wird der EU-Beitritt kurzfristig wenig ändern. "Die EU-Erweiterung passiert schon seit Jahren", stellt Richter klar und weist auf die bereits vorgenommenen politischen, wirtschaftlichen und strukturellen Anpassungen Ungarns an das EU-Regelwerk hin.

Hinsichtlich der Beitrittsverhandlungen ist das Nachbarland den anderen Moel weit voraus. Schon 22 der 30 Kapitel wurden abgeschlossen, vor kurzem die beiden heiklen Bereiche Umwelt und Migration. Mit der stufenweise erfolgenden Anerkennung der EU-Standards kommen auf das Land riesige Umweltinvestitionen zu. In den kommenden zehn bis 15 Jahren dürften rund 10 Mrd. Euro in die

Abwasserentsorgung und in andere schadstoffreduzierende Maßnahmen gesteckt werden, schätzt Richter. Nach und nach sollen mit dem Geld die letzten veralteten Industriebetriebe eingestellt oder grundlegend erneuert werden. Wie in kaum einem anderen Land stehen in Ungarn modernste Produktionsstätten neben "fossilen" Fabriken aus der kommunistischen Ära.

Als wegweisend gilt auch die von Ungarn mit der EU schon abgeschlossene 7-Jahres-Übergangsregelung in Sachen Migration. Das in drei Stufen (,,2-3-2") gestaffelte Paket gibt den "alten" EU-Länder die Möglichkeit, nach Ungarns EU-Beitritt sofort, nach zwei Jahren, nach fünf Jahren oder aber spätestens nach sieben Jahren die Restriktionen für den freien Personenverkehr aufzuheben. Während einige Länder ihre Grenzen für Ungarn von Anfang an öffnen werden, geht Richter bei Österreich von Restriktionen über

5 Jahre aus. Nachsatz: Die Regelung komme auch Ungarn zugute, da das Land bei einer allzu raschen Öffnung aufgrund seines deutlich geringeren Lohnniveaus eine Abwanderung bestqualifizierter Fachkräfte fürchten müsste.

Freihandelsabkommen

Anders als der freie Personenverkehr ist der freie Warenverkehr schon Alltag. Zumindest auf dem Papier. Dank dem Freihandelsabkommen zwischen EU und Ungarn gibt es auf Industrieprodukte - Nahrungsmittel ausgenommen - zwar keine Zölle mehr. Infolge der strengen - durch das Schengener Abkommen bedingte - Grenzkontrollen, stehen Frächter aber ebenso wie Privatreisende stundenlang an den Übergängen.

Im Jahr 2004 werden alle Beschränkungen, auch im Lebensmittel- und landwirtschaftlichen Bereich fallen, weiß Richter. An den Wartezeiten merken werden die "Grenzgänger" das leider allerdings erst, wenn Ungarn auch "Schengen" beigetreten ist.

Nach den Anfang der 90er begonnenen "sieben mageren Jahren" spricht Richter für Ungarn jetzt von den "sieben fetten Jahren". Seit 1996 spüre die Bevölkerung, dass es aufwärts gehe. Die Wirtschaftsleistung steige weit schneller als im EU-Durchschnitt, der Konsum nehme sogar noch stärker zu. Die volkswirtschaftlichen Daten lassen sich gleichfalls sehen. Mit Staatsschulden von rund 60% des BIP, einem Budgetdefizit von 3 bis 4% des BIP und einem Leistungsbilanzdefizit von 2 Mrd. Euro könne Ungarn ganz gut leben, so der WIIW-Experte.