Wenn man in Ungarn der Nation gedenkt, gehen harmlose Passanten in Deckung. Die Magyaren versammeln sich dann nicht in trauter Einigkeit um geschichtsträchtige Symbole, vielmehr kommt es zu Protestveranstaltungen und rechtsradikaler Gewalt. Am 23. Oktober 2006, als man den 50. Jahrestag des Aufstandes gegen die Sowjets feierte, flogen - dem Anlass entsprechend - Molotowcocktails. Am 15. März, die Ungarn gedachten des Aufstandes gegen die Habsburger 1848, hatten die Sanitäter erneut alle Hände voll zu tun. Ähnliches geschah am 23. Oktober diesen Jahres.
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Friedliche Proteste wie gewalttätige Randale richten sich vordergründig gegen den sozialistischen Premier Ferenc Gyurcsány, der das Volk belogen hat und dem vorgeworfen wird, das Land in den Ruin zu führen.
Der wahre Grund der immer pünktlich zu Staatsfeiertagen auftretenden rechten Gewalt liegt in einer tiefen nationalen Verunsicherung, deren Ursprung in die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg zurückreicht. 1920, im Frieden zu Trianon, verlor Ungarn zwei Drittel seines Staatsgebietes. Ähnlich wie die Deutschen in der Zwischenkriegszeit das "Diktat von Versailles" als Schmach empfanden, ist für die Ungarn Trianon zum Trauma geworden - und das bis zum heutigen Tag. Ähnlich wie der Versailler Vertrag seinerzeit dem Nationalsozialismus enormen Auftrieb verliehen hat, ist die "Tragödie von Trianon" in Ungarn an der Schaffung einer vielfältigen rechtsextremen Szene beteiligt.
Neben der gewaltbereiten Jugendorganisation "64 Komitate" ist da die eben erst gegründete "Ungarische Garde", eine paramilitärische Vorfeldorganisation der Jobbik-Partei zu nennen. Der knapp 1000 Mitglieder zählende Verein behauptet, die (seit 1920 empfindlich geschrumpfte) Heimat verteidigen und "Verbrechen gegen das Ungarntum" ahnden zu müssen. In Anlehnung an die ungarische SS, die Pfeilkreuzler, trägt man schwarze Uniformen. "Volksfremde Elemente", die es abzuwehren gilt, sind in dieser paranoiden Vorstellungswelt schnell ausgemacht. Neben den "Kommunisten", repräsentiert durch Premier Gyurcsány, ist "der Jude" zum Synonym für feindlich Fremdes geworden. Auch der Ansicht, dass "Israel Ungarn bereits gekauft" habe, würden sich viele Ungarn anschließen. Der alltägliche Antisemitismus ist weit verbreitet, die Mitschuld am Holocaust wird verdrängt, die Vergangenheitsbewältigung steht aus.
Zur Verschärfung des Problems trägt bei, dass es die Opposition unter Viktor Orbán unterlassen hat, sich von der extremen Rechten zu distanzieren. Orbán, der zwei Wahlen in Folge verloren hat, will eine breite Front gegen die Sozialisten aufbauen und auf den rechtsextremen Rand nicht verzichten. Er hat zwar Gewalttaten immer wieder verurteilt, macht die Täter aber vor allem auf der Seite der Exekutive ausfindig.