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Ungarn: Reformstau rächt sich bitter

Von Carola Palzecki

Analysen

Bevölkerung ist verunsichert. | Wirtschaft wächst nur schleppend. | Viele Ungarn kennen sich spätestens seit Herbst 2006 nicht mehr im eigenen Land aus. Dieser Herbst 2006 stand im Zeichen des Bekanntwerdens der "Lügenrede" von Premier Ferenc Gyurcsány, in der dieser eingeräumt hatte, dass die Regierung das eigene Volk und internationale Organisationen, allen voran die EU, seit zwei Jahren systematisch mit falschen Informationen über die Situation im Land versorgt hatte. Nur kurze Zeit später brachte Gyurcsány sein Reformprogramm auf den Weg, das von vielen aber als unausgegorenes Stückwerk wahrgenommen wird.


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Seither wird das Nachbarland regelmäßig, mit Vorliebe an Nationalfeiertagen, von Protesten erschüttert. Zuletzt zogen die Menschen am 15. März in Scharen auf die Straßen. Dabei ging es zwar spürbar ruhiger zu als bei den Massendemonstrationen zuvor. Ungarn wirkt trotzdem noch längst nicht wieder so, als ob alles in Ordnung wäre. Der Eindruck vom Land in ständigem Aufruhr verfestigt sich, auch wenn der Wirtschaftsstandort Ungarn nach wie vor bei Auslandsinvestoren beliebt ist und etwa nach Angaben der deutschen Außenhandelskammer in Budapest trotz der wiederkehrenden Ausschreitungen der vergangenen Monate gerade auch im Vergleich mit anderen Ländern in der Region mit politischer Stabilität und Rechtssicherheit punkten kann.

Sorgen um Arbeitsplatz

Die Befindlichkeit der Ungarn selbst lässt sich hingegen wohl mit "verunsichert" oder "zutiefst in den Grundfesten erschüttert" kennzeichnen. Es ist einfach zuviel, was da in jüngster Zeit auf sie einstürmt, ohne dass es ernst zu nehmende Erklärungsversuche dazu gäbe.

Für Frust sorgen etwa die ständige Diskussion über die Einführung neuer Gebühren vor allem im Gesundheitswesen, im Zusammenhang mit immer häufigeren Meldungen über Entlassungen im großen Stil, scheinbar immer berechtigtere Sorgen um den eigenen Arbeitsplatz, die zweithöchste Steuerbelastung nach Belgien innerhalb der EU, ein rapide zunehmendes Armutsrisiko - Ungarn rangiert inzwischen innerhalb der EU weit abgeschlagen nur noch knapp vor Bulgarien, Rumänien, Polen und der Slowakei -, schrumpfende Netto-Einkommen, die Beschneidung von Zuverdienstmöglichkeiten im Alter bei teilweise erschreckend niedrigen Renten von umgerechnet gerade einmal 100 Euro, dazu Meldungen über ein höchst schleppendes Wirtschaftswachstum von gerade einmal einem Prozent, wobei das Plus angeblich vor allem dem Drogenhandel und der Prostitution zu verdanken ist.

Zu lange wiegten sich die Ungarn nach 1989 in der falschen Gewissheit, Musterknabe unter den ehemaligen Ostblockstaaten zu sein, wobei ihnen der Erfolg lange genug Recht gab. Darüber wurde vielfach versäumt zu modernisieren, zu reformieren, zu liberalisieren und zu entbürokratisieren, während andernorts in der Region vor allem die ökonomischen Strukturen den Erfordernissen der Zeit angepasst wurden.

Heute schauen die Ungarn beispielsweise neidvoll auf die in früheren Zeiten von ihnen beherrschten Slowaken und können über den Wirtschaftsboom im Nachbarland nur staunen.

Tauziehen um die MOL

Die allgemeine Verwirrung spiegelt sich wohl am besten im aktuellen Spektakel um den Öl- und Gaskonzern MOL wider, der nur ja nicht von dem österreichischen Konkurrenten OMV geschluckt werden soll.

Das Tauziehen erinnert nicht zuletzt an die Übernahme der deutschen Mannesmann durch die britische Vodafone. Damals traten die Schwachstellen des scheinbar unangreifbaren Wirtschaftsriesen Deutschland brutal zu Tage.

Auch die mögliche Übernahme der MOL durch OMV bedeutet mehr als einen Eigentümerwechsel, sie markiert vielmehr die deutliche Erschütterung des Glaubens der Ungarn an sich selbst.

Reformen, sollen sie langfristig erfolgreich sein, müssen in Ungarn denn wohl auch weniger zuerst bei Kennziffern als bei der Volksseele ansetzen.