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Mehr als 100.000 Menschen sollen vor der Staatsoper in Budapest gegen das ungarische Grundgesetz protestiert haben. Am 1. Jänner hatte dieses die noch aus dem Jahr 1948 stammende Verfassung abgelöst - für viele der Anfang vom Ende der Gewaltenteilung. Unterdessen krönte der nationalkonservative Ministerpräsident Viktor Orban das, wogegen sich der Volkszorn richtete, mit einem musikalischen Wiegenfest. Zuvor hatte er in der Nationalgalerie die Ausstellung "Helden, Könige, Heilige" eröffnet. Dafür wurden die kostbarsten der Gemälde zusammengetragen, mit denen sich die ungarische Geschichte so illustrieren lässt, wie in der Nationalhymne geschildert: als Kampf eines Volkes, das allen, insbesondere kriegerischen, Anfechtungen so opferreich wie wacker wehrt.
Wer den Redner Orban kennt, weiß, dass er zu Bestform aufläuft, wenn es um Helden und Heldentum geht. Nicht selten scheint er dann im Geiste wieder unter den Hunderttausenden zu weilen, die im Juni 1989 an der Umbettung des Volksaufstand-Nationalhelden Imre Nagy teilnahmen, noch einmal den Abzug der sowjetischen Truppen zu fordern oder wie im Herbst 2006 gegen Premier Ferenc Gyurcsany als einen mutmaßlichen Usurpator zu wettern.
Derart entrückt erschien Orban auch in der Nationalgalerie, ganz so, als wolle er nicht wahrnehmen, was sich in der Hauptstadt immer unübersehbarer zusammenbraut. Dort demonstrieren inzwischen fast täglich tausende von Menschen gegen ihn. Beobachter sprechen davon, dass Orban mit der satten Zwei-Drittel-Mehrheit seiner Fidesz-Partei wohl noch im Parlament die Zügel in der Hand habe, seine Gegner hätten jedoch die Herrschaft über die Straße angetreten, einst Orbans ureigenstes Schlachtfeld.
Damit ist noch nicht gesagt, dass die Karten neu gemischt sind. Für das politische Gefüge Ungarns, wo sich gerade in jüngster Zeit oft nur die Lautstarken behaupten, ist die Straße allerdings ein besonders sensibler Seismograf und immer wieder der Ort, an dem sich neue politische Helden profilieren. Deshalb ist es nicht nur ein Akt der Verzweiflung, wenn sich etwa die Spitze der für eine stärkere Zivilgesellschaft werbenden Oppositionspartei LMP zum "neuen Widerstand" auf der Straße entschließt, "weil es nicht mehr ausreicht, ins Parlament zu gehen".
Vor allem ist es die nachdrückliche, vielleicht sogar letzte Aufforderung an den Ministerpräsidenten, den Dialog mit seinen politischen Gegenspielern zu suchen, bevor die Stimmung weiter dramatisch kippt. Wie schnell das gehen kann, weiß wohl niemand besser als Orban, der den Widerstand der Straße schon zweimal zu seinen Gunsten nutzte.