In der südungarischen Stadt Szeged zeigt sich das freundliche Gesicht des Landes, das angesichts der fremdenfeindlichen Kampagne der rechtsnationalen Regierung von Viktor Orban zu verblassen drohte.
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Szeged/Kanjiža. Die Mondsichel leuchtet am Himmel, doch die Luft ist immer noch schweißtreibend. Trotzdem darf die sechs Monate alte Amira nicht zu kalt gebadet werden. Die pensionierte Friseurin Erszebet G., Aktivistin der ungarischen Hilfsorganisation MigSzol, gießt aus einem elektrischen Schnellkocher Wasser in die kleine Plastikwanne, die am Bahnhofsvorplatz von Szeged neben einer Bank steht, auf der sich die afghanische Familie niedergelassen hat. Amira lässt das Waschen nur unter Gebrüll über sich ergehen. Dann fragt die Helferin: "Wie viel wiegt das Kind? Wird die Windelgröße für Fünf-Kilo-Babys passen?"
Eine Babywaage war nicht dabei unter den vielen Spenden, die MigSzol erreicht haben. Dafür gibt es Kühlschränke für die belegten Brote und für die bei der Hitze sehr gefragten Wassermelonen. Es gibt Handtücher, Seife, Zahnbürsten, eine Wifi-Verbindung. Die sozialistisch geführte Gemeinde Szeged hat Zugang zu Wasser und Strom organisiert. Leila aus dem Iran, die in Szeged Medizin studiert, schmiert immer wieder Salbe gegen Gelsenstiche in Kindergesichter - diese Verletzungen bringen viele von den langen illegalen Märschen durch Wälder und Felder mit. Bei einem Dreikäsehoch haben sich Wunden nach Insektenstichen auf der Brust und an den Händen infiziert. Leila desinfiziert und legt Verbände an.
Wohl größte Hilfsaktion seit Ansturm der DDR-Flüchtlinge
Seit Monaten kommen sie zu Tausenden, meistens in kleinen Gruppen, auf der Flucht vor Krieg und Diktatur: Aus Afghanistan, dem Irak, Syrien, aber auch aus Schwarzafrika. Die meisten gelangen illegal über die grüne Grenze aus Serbien nach Ungarn. In diesem Jahr waren es schon mehr als 86.000, doppelt so viele wie im Vorjahr. Szeged, Grenzstadt im Dreiländereck Ungarn-Serbien-Rumänien, ist die wichtigste erste Durchgangsstation. Diejenigen, die am Bahnhof versorgt werden, sind bereits von der ungarischen Grenzpolizei samt Fingerabdrücken registriert worden. Sie haben ein Papier bekommen, das sie einem der drei ungarischen Aufnahmelager zuweist, sowie einen Gratis-Fahrschein für den Transport. Bis zur Abfahrt müssen sie stundenlang warten - oft auch eine ganze Nacht. Wie Amira und ihre Familie.
"Wir hatten heute Nacht einen Rekord: 136 Flüchtlinge gleichzeitig", sagt Balazs Szalay am Tag danach. Szalay, ein Mittdreißiger, von Beruf Informatiker, ist einer der ehrenamtlichen Aktivisten von MigSzol, ohne die am Bahnhof von Szeged chaotische Zustände herrschen würden. Das Kürzel MigSzol steht für "Solidarität mit Migranten". Was sie gerade hier auf die Beine stellen, dürfte in Ungarn als größte Hilfsaktion seit dem Ansturm der DDR-Flüchtlinge 1989 in die Geschichte eingehen.
Hier zeigt sich das freundliche Gesicht Ungarns, das angesichts der fremdenfeindlichen Kampagne der rechtsnationalen Regierung von Viktor Orban zu verblassen drohte. Die Regierungsplakate, auf denen Flüchtlinge aufgefordert werden, den Ungarn keine Arbeitsplätze wegzunehmen, haben allerdings auch Wirkung gezeigt. Rechtsradikale Gruppen haben am Budapester Bahnhof Flüchtlinge angegriffen und sie machen stets Stimmung gegen MigSzol. In Szeged schlug ein Skinhead ein Pärchen krankenhausreif, weil er irrtümlich annahm, dass der dunkelhäutige junge Mann ein Migrant sei.
"Die Migranten suchenkeine Konflikte"
Oberst Gabor Eberhardt, Chef der Grenzpolizei in Szeged, ist derweil zufrieden damit, dass es zu keinen Gewaltakten zwischen Migranten und der Bevölkerung gekommen ist. "Die Migranten suchen keine Konflikte", sagt er. "Auf ihrem Weg bei Nacht über die grüne Grenze orientieren sie sich an den erleuchteten Bauernhäusern und zertrampeln dabei die Gemüsegärten - aber offensichtlich nicht absichtlich". Seine Leute seien auch damit beschäftigt, den Bewohnern des Grenzgebiets die Angst zu nehmen. "Sie müssen sich die 70-jährige Bäuerin im Einödhof vorstellen, die seit 50 Jahren nur ihren drei Kilometer weiter wohnenden Nachbarn kennt. Die wundert sich natürlich, wenn plötzlich Menschenmassen aus Mosambik und Pakistan durch ihren Garten gehen."
Mit solchen Schreckensvisionen macht vor allem der ultra-nationalistische Bürgermeister des Grenzdorfs Asotthalom Stimmung: Der Rathauschef Laszlo Toroczkai, 2006 einer der Anführer der Straßenproteste gegen den sozialistischen Premier Ferenc Gyurscany, war einer derjenigen, der den Bau des Grenzzauns verlangt hat, mit dem Ungarn vor Kurzem bei Morahalom begonnen hat. Der gesamte 175 Kilometer lange serbisch-ungarische Grenzabschnitt soll nach jüngster Anweisung Orbans schon bis zum 31. August durch einen vier Meter hohen Drahtzaun abgeriegelt werden, dessen oberer Teil aus Klingendraht besteht. Dieser von der Nato verwendete Draht hat anstelle von Stacheln messerscharfe Klingen.
Wird dieser Zaun den Migrantenstrom aufhalten? "Ich weiß es nicht, wir werden sehen", sagt Oberst Eberhardt. Begeistert klingt das nicht. Verbreitet sei vor allem die Angst, dass die Migranten Krankheiten einschleppen. "Die Durchschnittsmenschen denken an Krankheit, wenn sie das Wort Afrika hören."
Flüchtlinge reisen weiter Richtung Westen
Auch deswegen sorge die Polizei "sichtbar und unsichtbar" dafür, dass sich in den Dörfern keine Migranten auf den Straßen versammeln. Diese würden sofort in eine Transitstation am Grenzübergang Röszke gebracht und dann weiter zur Registrierung nach Szeged. Diejenigen, die in Ungarn keinen Asylantrag stellen wollen, kommen in Abschiebehaft und werden zurück nach Serbien gebracht. Wer in Ungarn einen Asylantrag stellt, darf dies laut Dubliner Abkommen in keinem anderen EU-Land mehr tun. Trotzdem reisen viele Asylantragsteller nicht in das ihnen zugewiesene ungarische Flüchtlingslager, sondern weiter Richtung Westen.
In Deutschland gibt es inzwischen Gerichtsurteile, wonach Flüchtlinge wegen schlechter Behandlung in ungarischen Lagern nicht wieder dorthin abgeschoben werden dürfen. Das hat sich bis nach Kanjiza herumgesprochen. In diesem serbischen Grenzort sammeln sich die Flüchtlinge vor der illegalen Wanderung nach Ungarn seit Monaten. Auch Achmed (29) und Chalid (27), beide Hochschulabsolventen aus dem heute ruinengleichen syrischen Aleppo, wollen weiter nach Deutschland. Bei der Fußwanderung nach Ungarn wollen sie sich per GPS orientieren. In ihrem sportlichen Outfit mit Rucksack und Gürteltaschen könnte man sie für normale Touristen halten.
Die beiden Männer gehören, wie viele der jetzt ankommenden Flüchtlinge, nicht zu den Ärmsten der Armen - vielmehr scheint hier der Mittelstand des Nahen Ostens vor dem Krieg zu fliehen. 4000 Euro habe seine Reise aus Syrien bis nach Serbien gekostet, erzählt Chalid. Seine Familie habe es gerade noch geschafft, dieses Geld zusammenzukratzen. Für eine Auswanderung aller Angehörigen habe es nicht gereicht.
1500 Ankömmlinge in serbischer Grenzstadt
Chalid und Achmed haben sich über die Türkei, Griechenland und Mazedonien vorläufig bis zur "Pizzeria la Bella Venezia" in Kanjiza durchgeschlagen. Deren Besitzer macht jetzt wohl das Geschäft seines Lebens. Zum Reden hat er keine Sekunde Zeit, denn drinnen und draußen auf der Terrasse ist es brechend voll. Heute kommen die meisten Kunden aus Syrien. Sie zahlen ordentlich für die Verköstigung und stehen Schlange bei der Dusche im Hinterhof des Gasthauses. Die dürfen sie für zwei Euro benutzen. Auf den Tischen stapeln sich Drei- und Vierfachsteckdosen, darinnen stecken die Aufladekabel der Smartphones.
Gegenüber, auf den Grünflächen zwischen Rathaus und Kulturzentrum, kampieren grüppchenweise mindestens 200 Migranten. Polizisten oder Helfern sind nicht da. "Sie verrichten hier ihre Notdurft, ständig müssen wir putzen und desinfizieren", klagt Robert Lacko, Vorsitzender des Gemeindeparlaments von Kanjiza. Müll ist allerdings nicht zu sehen. Mindestens 1500 Flüchtlinge kämen täglich mit Bussen aus Belgrad in den Ort mit rund 10.000 Einwohnern. Hinzu kämen jeden Tag 40 bis 50 Menschen, die aus Ungarn abgeschoben würden, weil sie dort keinen Asylantrag stellen wollten. Sie müssen in Serbien umgerechnet 40 Euro Strafe zahlen und würden dann auf freien Fuß gesetzt, sodass sie den heimlichen Weg nach Ungarn wieder versuchen, sagt Lacko.
Achmed sitzt inzwischen vor dem Rathaus und tippt nervös in sein Smartphone. Er ist besorgt: "Hier erzählen die Leute jetzt, dass die Route, die das GPS angibt, nichts taugt. Auf dieser Strecke sind viele ungarische Polizisten. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll".