Die Serie von Mordanschlägen reißt nicht ab. | Budapest. Mehr als 1000 Menschen, darunter auch der ungarische Kanzleramtsminister Csaba Molnár, haben am Mittwoch Jenö Kóka die letzte Ehre erwiesen. Der 54-Jährige war sechs Tage zuvor spätabends vor seinem Haus im nordungarischen Tiszalök erschossen worden. Er wurde damit zu einem weiteren Opfer in einer Reihe von inzwischen nicht weniger als acht Mordanschlägen, die in Ungarn während der vergangenen Monate auf Roma verübt wurden und bei denen immer Schusswaffen mit ihm Spiel waren. Zuerst wurde eine 40-Jährige in Nagycsécs getötet, das nur einige Kilometer Luftlinie von Tiszalök entfernt liegt.
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Inzwischen sind gut 1000 Polizisten Tag und Nacht im Einsatz, um den Tätern das Handwerk zu legen. Solange sie nicht gefasst sind, muss damit gerechnet werden, dass weitere Roma in akuter Lebensgefahr sind.
Justizminister Tibor Draskovics hatte Anfang März mitgeteilt, dass der Polizei Hinweise vorlägen, dass es sich bei den Tätern um "Todesschwadrone" handele, die gezielt gegen Roma vorgingen. Er hatte darauf verwiesen, dass sich die Taten immer in Gemeinden unweit der Autobahnen M3 und M5 ereigneten. Eine Verbindung zu rechtsextremistischen Kreisen schloss Draskovics damals aus.
Polizisten verdächtig
Geheimdienstchef Sándor Laborcz präzisierte diese Angaben vor kurzem dahingehend, dass auch ausgebildete Polizisten oder Soldaten zu der vermutlich vier- oder fünfköpfigen Tätergruppe zählen könnten. Denn die Täter, die offensichtlich Angst und Schrecken unter den Roma verbreiten wollten, seien außerordentlich geübt im Umgang mit Waffen.
Der Mord an Jenö Kóka hat großes Aufsehen erregt, wenngleich das Interesse der Öffentlichkeit an dem Fall deutlich geringer ist als bei dem Mordanschlag Ende Februar unweit von Budapest, bei dem der 27-jährige Robert Csorba und sein viereinhalbjähriger Sohn erschossen wurden. Führende ungarische Politiker bekunden t bei allen tödlichen Attacken stets ihr Mitgefühl für die Hinterbliebenen sowie ihre Besorgnis wegen der schwierigen Situation der Roma in Ungarn. Eine grundlegende Diskussion findet jedoch nicht statt, dafür sitzt das Problem wohl zu tief.
Die Politikberatung Political Capital hatte schon vor einigen Monaten vor einer Häufung von Attacken gegen Roma gewarnt. Im Zuge des gesellschaftlichen Rechtsrucks und den deutlich spürbaren Auswirkungen der Wirtschaftskrise würden Roma nicht nur als erste ihre Jobs verlieren, sondern müssten auch als Sündenböcke für die allgemeine Misere herhalten, heißt es in einer Studie.
Krise verstärkt Hass
Die Stimmung im Lande ist alles andere als günstig für die Roma. Freilich begrüßt niemand öffentlich die Mordanschläge, es gibt jedoch immer mehr Nährboden für die Diskriminierung von gesellschaftlichen Außenseitern und Randgruppen, wozu in erster Linie Roma zählen. Die Arbeitslosigkeit steigt rapide, und laut Nationalbankchef András Simor rollt die große Pleitewelle im Zusammenhang mit der Krise auf Ungarn erst noch zu.
Selbst im für die Roma günstigsten Fall dürfte sich in nächster Zeit also zumindest das gängige Vorurteil, dass Roma "vom Staat viel Geld fürs Nichtstun und Kinderkriegen bekommen", noch in vielen Köpfen festsetzen. Dass sich ihre Situation kurz- oder mittelfristig verbessert, ist hingegen kaum wahrscheinlich.