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"Ungarns Wirtschaft ist für einen Beitritt zur Union gewappnet"

Von Ines Scholz

Politik

Wien - Aus wirtschaftlicher Sicht wird Ungarn Anfang 2002, wenn die Europäische Union zumindest nach inoffizieller Lesart die erste Phase der Osterweiterung einläuten will, EU-Kompatibilität erreicht haben. Schwierigkeiten gibt es hingegen noch bei der Anpassung des Rechtswesens und der Schaffung eines modernen öffentlichen Verwaltungswesens, das den Brüsseler Anforderungen gerecht wird. Dies erklärte Andras Inotai, Generaldirektor des ungarischen Instituts für Weltwirtschaft und ehemaliger Leiter der von der Budapester Regierung eingesetzten Arbeitsgruppe für Integrationsfragen bei einem Vortrag über den Stand der ungarischen Beitrittsverhandlungen im Wiener Renner-Institut.


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Dass Ungarns Wirtschaft schon jetzt quasi EU-Reife erlangt hat, untermauert der Professor der Akademie der Wissenschaften mit dem hohen Grad der Verflechtung in den Handelsbeziehungen zur EU. Ungarns Exporte gingen bereits jetzt zu 76% in die Union. Dieser Anteil am Gesamtexport sei - mit Ausnahme Portugals und den Niederlanden - bereits höher als in EU-Binnenländern.

Wertschöpfungsintensive Exportwirtschaft

Als positives Zeichen sieht Inotai auch die Verlagerung der ungarischen Exportprodukte von Roherzeugnissen hin zu technologie-intensiven Sparten wie Maschinen, Fahrzeuge und elektrotechnische Erzeugnisse, die mittlerweile 60% der Ausfuhren ausmachten. Hier liege Ungarn im Vergleich zu den anderen Beitrittswerbern mittlerweile im Spitzenfeld. In Slowenien mache der Anteil 45% des Gesamtexports aus, in Polen gar nur 30%.

Produktionsrückgänge gebe es hingegen in der Textil- und Lederindustrie. Die meisten Firmen, die sich zu Beginn der neunziger Jahre im Billiglohn-Land Ungarn angesiedelt hatten, seien inzwischen aufgrund der gestiegenen Lohnkosten wieder abgewandert - vorwiegend nach Südosteuropa.

Nicht ohne Stolz verweist der Leiter des renommierten Budapester Weltwirtschaftsinstituts auch auf die Qualitätssteigerung bei Exportprodukten: laut einer Untersuchung haben sich die Durchschnittspreise der ungarischen Ausfuhrwaren jenen der EU-Länder nahezu angeglichen. Ein Indiz dafür, dass viele westliche Firmen ihre Produktion samt dem Know-How nach Budapest verlagert habe.

Bei der Übernahme der EU-Rechtsnormen, die laut Plan bis 2001 abgeschlossen sein sollte, geriet Ungarn in den letzten Jahren in einigen Bereichen in Verzug. Vor allem im Umweltbereich sei man hinter dem gesteckten Ziel zurück geblieben, bedauert der Professor. Noch größer würden die Probleme in der öffentlichen Verwaltung wiegen, die "immer noch erhebliche Lücken" in der Organisationsstruktur aufweisen. Hauptproblem sei insbesondere die Aufteilung der einzelnen Fachbereiche der Ministerien nach EU-Kompetenzen und die Schaffung klarer Trennlinien zwischen den Lokal-, Regional- und Bundesbehörden. Zudem bedürfe einer größeren Verzahnung vor allem in den kritischen EU-Bereichen Landwirtschaft, Umwelt und regionale Entwicklung, damit sowohl die Wettbewerbsfähigkeit als auch der Transformationsprozess zügiger voran getrieben werden können.

Am Scheideweg

Die Osterweiterung befinde sich zur Zeit in einer kritischen Phase: Nicht nur, dass spätestens im Herbst die heiklen Themen wie Agrarpolitik, Freizügigkeit, Regionalpolitik, Übergangsfristen und Sicherheitsfragen etwa im Rahmen von Schengen bei den Beitrittsverhandlungen aufs Tapet kommen und noch für einigen Zündstoff sorgen werden, auch die öffentliche Zustimmung für den Erweiterungsprozess droht nach Ansicht Inotais zu kippen. Innerhalb der EU sei dies zum Teil bereits passiert, nach der kommenden Herbstsession dürfte sich auch bei Bevölkerungsgruppen der Beitrittskandidaten erster Unmut regen: nicht alle werden aus den strukturellen Umwälzungen als Gewinner hervorgehen. In Slowenien und Estland ist die Zustimmung der Bevölkerung zum Integrationsprozess mittlerweile bereits gesunken. In Ungarn stehen zwar nach wie vor 70 Prozent dem Anschluss an das Europa der 15 positiv gegenüber. Aber auch das könne sich noch ändern, wenn erst einmal die kritischen Bereiche - etwa die Streichung EU-widriger Subventionen im Agrarsektor - ausverhandelt seien.

Phantomängste

In der vor allem von Österreich befürchteten Migrationsflut ungarischer Arbeitskräfte nach dem EU-Beitritt gab der Professor Entwarnung: selbst innerhalb der Landesgrenzen seien die Ungarn kaum bereit, wegen eines lukrativeren Jobangebots ihren Wohnsitz zu verlagern, und dies, obwohl im westlichen Teil des Landes wegen des Bedarfs an ausgebildeten Arbeitskräften die Jobs gut bezahlt sind, so Inotai.

Ob sie planen, im Westen auf Arbeitssuche zu gehen beantworteten in einer kürzlich durchgeführten Umfrage 97 Prozent der Ungarn mit einem klaren "Nein". Inotai rechnet vor, dass gut ausgebildete ungarische Arbeitskräfte mittlerweile um höchstens 40 Prozent weniger verdienen als ihre entsprechenden österreichischen Kollegen. Ein Umzug rechne sich kaum, zumal die Ungarn zu 80 Prozent in Eigentumswohnungen leben: "wenn sie umsiedeln, müssen sie einen Teil des höheren Gehalts für die Miete zahlen".

Eine Migrationslawine würde erst dann losgetreten, wenn durch eine Verzögerung des Beitritts die Wachstumseffekte in Ungarns Wirtschaft nachhaltig gebremst würden, ist der Wirtschaftswissenschaftler überzeugt.

Stufenplan

Von Spekulationen über den Zeitpunkt des Beitritts hält Inotai nichts. Diese Frage sei selbst in Brüssel noch offen. "Ich bin auch nicht dafür, jetzt schon einen fixen Zeitplan festzulegen". Allerdings tritt er für einen Stufenplan zur Erweiterung ein, da in den Beitrittsländern der Transformationsprozess mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten voran gehe. Die Kluft zwischen den einzelnen Kandidatenländern sei in den letzten Monaten eher größer als kleiner geworden. Es wäre daher unannehmbar, von den am weitesten fortgeschrittenen Ländern wie Ungarn oder Slowenien zu erwarten, dass sie solange vor der Tür warten, bis die Nachzügler ihren Transformationsprozess abgeschlossen haben.

Welches der Erweiterungsszenarien umgesetzt werde, "hängt aber nicht zuletzt auch von der politischen Großwetterlage einschließlich der Entwicklungen in Russland ab", schätzt der Professor. Für Ungarn sei wichtig, den selbst abgesteckten Zeitplan, nämlich bis Anfang 2002 für den Beitritt gerüstet zu sein, einzuhalten. Wenn sich dieser dann um ein, zwei Jahre verschiebt, "wäre das keine Katastophe".

Übergangsfristen etwa im Bereich der Landwirtschaft oder der Freizügigkeit des Personenverkehrs hält Inotai für unvermeidbar, wenn man den Erweiterungsprozess rasch in Gang bringen will. Selbstsicher gab sich der Professor gegenüber Österreich, das sich aus Angst vor einer Überschwemmung des Arbeitsmarktes durch ungarische Billigkräfte ja für lange Übergangsfristen stark macht. Ungarn werde, was das unterschiedliche Lohnniveau betrifft, bereits in den kommenden fünf bis zehn Jahren mit Österreich gleichziehen. Heuer, so schätzen Ungarns Wirtschaftsmanager, werde das Realeinkommen um 9 bis 10 Prozent steigen. Und, so Inotai: auch zwischen den beiden EU-Ländern Deutschland und Portugal liege das Lohnverhältnis immer noch bei 2:1, ohne dass eine "bedrohliche Emigration" stattfinde.

Gewinner und Verlierer

Für den wachsenden Erweiterungsskeptizismus in West und Ost ist für Inotai vor allem eines verantwortlich: die Nicht- Unterscheidung zwischen Auswirkungen der Globalisierung und jenen des Integrationsprozesses etwa bei der .Abwanderung westlicher Betriebe in Billiglohnländer oder dem Preisdumping.

Durch die Öffnung der Ostmärkte seien Arbeitsplätze im EU-Raum eher geschaffen als abgebaut worden. Der Handelsbilanzüberschuss der Union gegenüber den Reformländern betrug 1998 22 Mrd. Euro. "Wenn wir diesen Überschuss in Arbeitsplätze umrechnen, wurden im Westen dadurch über 400.000 Arbeitsplatze geschaffen bzw. gesichert".