Physiker suchen weiterhin nach einer Theorie, die alles erklärt.
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Genf/Wien. Die Leistungen der Physiker können Respekt einflößen: Isaac Newton durchschaute das Gesetz der Schwerkraft. James Clerk Maxwell erfasste das Wesen der Elektrizität, Albert Einstein beschrieb die Relativitätstheorie.
Doch selbst die genialste These muss bewiesen sein, um zu gelten, und physikalische Theorien werden stets von noch umfassenderen abgelöst: Galilei von Newton, die klassische Mechanik von der relativistischen. Am Ende steht die Hoffnung auf die Weltformel. Und da Bosonen, Neutrinos oder Photonen für das freie Auge nicht sichtbar sind, müssen Teilchenphysiker aufwendige Experimente unternehmen, um ihre Ideen zur Entstehung des Universums zu untermauern. Nicht immer verhalten sich die Teilchen dabei so, wie ihre Entdecker es von ihnen erwarten. Der elementare "Ungehorsam" kann sogar so weit gehen, dass eine Theorie für haltlos erklärt werden muss. Was die Teilchen tun, bestätigt oder widerlegt die These.
Die Natur ist die beste Science Fiction
An diesem Punkt ist man am Europäischen Kernforschungszentrum Cern in Genf zwar noch nicht. Doch löste jüngst ein Experiment Ernüchterung aus.
Der Hintergrund: Mit der Entdeckung des Higgs-Teilchens am 4. Juli füllte sich eine Lücke in einem entscheidenden Kapitel der Physik. Das Standardmodell, das die bekannten Elementarteilchen und damit unsere Welt seit dem Urknall erklärt, wurde vervollständigt. Den Planeten und Sternen, der Schwerkraft und dem Leben auf der Erde liegen demnach zwölf Materiebestandteilchen zugrunde - sechs Arten von Quarks und sechs Arten von Leptonen. Das Higgs-Feld voller Higgs-Bosonen verleiht den Teilchen ihre Masse. Gefunden war des Rätsels Lösung, warum es uns überhaupt geben darf. Doch die Lösung warf auch neue Fragen auf.
Das Higgs-Boson könnte nämlich Verwandte haben, die bei Teilchen-Kollisionen im Hochenergiebereich nachweisbar sein sollen. "Die Masse des Higgs ist ein Hinweis, dass es bei Energien ab zehn Tera-Elektronenvolt neue physikalische Hinweise auf eine übergeordnete Theorie geben muss", sagt Christian Fabjan, Direktor des Instituts für Hochenergiephysik (Hephy) in Wien, zur "Wiener Zeitung": "Das Standardmodell beschreibt viel unseres sichtbaren Universums, aber es sagt nichts über Dunkle Materie und nichts darüber, warum Antimaterie sich ausgelöscht hat."
Da bloß vier Prozent des Universums aus der bekannten Materie bestehen, kamen Physiker auf die Idee, dass es noch mehr Materie geben muss, die etwa 85 Prozent der Masse des Universums ausmacht. Sie konnte bislang nicht direkt beobachtet werden und verrät sich allein durch ihre Gravitationskraft, die die normale Materie im Kosmos beeinflusst.
Künftige Experimente am Cern sollen sich daher neuen Erklärungen widmen. "Supersymmetrie" (Susy) heißt das beliebteste Theoriegebäude. Es postuliert, dass jedes Teilchen ein Spiegelteilchen hat, es daher doppelt so viele Teilchen gibt, wie wir sehen können. "Ein Teil des Spiegels sind wir, die aus den 12 Teilchen im Standardmodell bestehen. Die Spiegelteilchen sind auf der anderen Seite nicht wir, und sie sind größtenteils zerfallen. Sie verbinden sich nicht mit normaler Materie, üben jedoch eine Gravitation aus, weil sie Masse haben", so Fabjan: infolgedessen Dunkle Materie. Die Natur ist weitaus erstaunlicher als Science Fiction.
Und nun der Dämpfer: Die Cern-Physiker wollen ein sogenanntes Bs-Meson bei seinem Zerfall in zwei Leptonen beobachtet haben. Das Ereignis passiert laut den Forschern nur 3,2 Mal pro Milliarde Versuchen. Allerdings prognostiziert die Supersymmetrie in ihrer einfachsten Version andere Werte. Vielmehr entsprechen die Ergebnisse dem Standardmodell. "Das Standardmodell scheint heute erheblich gesünder zu sein, als es noch gestern war", erklärte Pierluigi Campana, Sprecher des Experiments, bei der Bekanntgabe der Daten. "Mit solchen supersymmetrischen Teilchen würde man eine wesentlich höhere Wahrscheinlichkeit für den Zerfall von Bs-Mesonen in zwei Myonen erwarten, als wir gemessen haben", sagte der deutsche Teilchenphysiker Ulrich Uwer. Und sein Kollege Chris Parkes fügte gar hinzu: "Susy ist vielleicht nicht tot, liegt aber sicherlich im Krankenhaus."
Weitere Theorien liegen in der Schublade
Fabjan sieht es etwas anders: "Das Ergebnis ist sehr wichtig. Aber dessen Impact auf die Supersymmetrie wird überbewertet. Susy ist der generische Name für eine ganze Klasse an verwandten Theorien, die von einer Reihe von physikalischen Parametern abhängen. Diese Messung sagt nur, dass die einfachsten Modelle in einem relativ großen Parameter nicht plausibel sind. Deswegen aber Susy abzuschreiben, wäre, als würde man sagen, dass es keine Hunde gibt, weil man einer Rasse nicht fündig wird." Auch das Higgs-Teilchen sei just dort entdeckt worden, wo es am schwierigsten zu finden war.
Ein guter Teil der Forschungsstrategie am Cern scheint also gerettet. Immerhin sei der wirklich interessante Energiebereich noch gar nicht untersucht worden, betont Michel Spiro, Vorsitzender des Cern-Rates, der obersten Instanz der Organisation, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung": "Bis 2030 wollen wir die höchste Energiestufe erreichen. Sollte sich Susy als falsch erweisen, haben wir andere Ideen in der Schublade. Susy ist nur eine von vielen Theorien, die die Tür zu einer übergeordneten Erklärung öffnen könnten." So könnte die Welt nicht nur aus vier Dimensionen von Raum und Zeit bestehen, sondern aus viel mehr egal wie kleinen Dimensionen. Genauere Antworten erwarten die Physiker von Fachkonferenzen ab März 2013.