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Ungesunde Deutschland-Wochen

Von WZ-Korrespondent Markus Kauffmann

Europaarchiv

Mediziner fordern höhere Gehälter und mehr Freizeit. | Der Ärztebund kämpft auch um Anerkennung als Tarifverhandler. | Berlin. Ein Vierteljahr dauert nun schon der verbissene Arbeitskampf der 22.000 Ärzte in deutschen Universitätsklinika und psychiatrischen Landeskrankenhäusern. Ein Novum für den deutschen Michel: Erstmals seit 30 Jahren gehen Mediziner in den Ausstand und bleiben da auch so lange wie nie zuvor. Uni-Kliniken siedeln ihre Patienten in Rollstühlen und auf Bahren in städtische Spitäler um.


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Der größte Ärztestreik in der Geschichte der Bundesrepublik und einer der zähesten Arbeitskämpfe überhaupt: Erste Protestaktionen gab es sogar schon vor zwei Jahren in Baden-Württemberg, nachdem die Landesregierung die Gehälter der angestellten Klinikärzte um ein Fünftel gekürzt hatte. Die Unzufriedenheit mit der Bezahlung, vor allem aber mit der faktischen Arbeitszeit schwelte indes in der ganzen Republik weiter, bis es im September vorigen Jahres zu Warnstreiks an verschiedenen Uni-Kliniken kam Maßnahmen eines Arbeitskampfes, dessen vorläufiger Höhepunkt am 16. Mai 2006 erreicht wurde. An diesem Tag legten bundesweit in 38 Unikliniken und Landeskrankenhäusern über 13.000 Ärzte ihre Arbeit nieder und 5000 Weißkittel versammelten sich im westfälischen Münster zu einer machtvollen Großdemonstration.

An der Spitze der öffentlichen Arbeitgeber steht Hartmut Möllring, 55jähriger Politprofi aus Niedersachsen, strammer CDU-Mann, Finanzminister seines Landes und Vorsitzender der "Tarifgemeinschaft deutscher Länder" (TdL). Ihm gegenüber vertritt die Interessen der Ärzte der um ein Jahr jüngere Frank Montgomery, Sohn eines britischen Offiziers, Radiologe und Chef des "Marburger Bundes", der größten Ärztevereinigung Europas (siehe Kasten).

Mit dem Rücken zur Wand

Beide Verbände stehen gewissermaßen mit dem Rücken zur Wand. Die Länder haben erst vor kurzem einen Tarifvertrag mit der Dienstleistungsgewerkschaft "Ver.di" für die Landesbediensteten abgeschlossen und vertreten den Standpunkt, dass sich auch die Klinikärzte daran zu halten hätten. Der Marburger Bund sei im übrigen keine Gewerkschaft und daher auch nicht tariffähig. Dem hält der Ärzteverband entgegen, dass nur 600 Ärzte "Ver.di"-Mitglied seien und die Gewerkschaft daher kein Vertretungsrecht habe. Dem Marburger Bund geht es also um die Anerkennung als Mediziner-Gewerkschaft. Viel Zeit bleibt ihm bei dem Poker allerdings nicht, weil er über keine Streikkasse verfügt. Außerdem wollen die Länder die Streiklust der Ärzte dämpfen, indem sie die Verbesserungen aus dem "Ver.di"-Vertrag bereits ab 1. Juli auftischen.

Andererseits bröckelt die Länderfront: Das Land Berlin wurde bereits vor zwölf Jahren aus der TdL ausgeschlossen, Hessen trat freiwillig aus. Hamburg und Berlin haben gesondert mit den Ärzten verhandelt. Bayern will den Vertrag mit "Ver.di" zwar übernehmen, aber aus eigenen Stücken 20 Prozent Salär drauflegen. Brandenburg ist nicht betroffen, das Saarland steht, ebenso wie Schleswig-Holstein unter Bundes-"kuratel" und hat daher nichts zu verhandeln. Möllring, der in den letzten Wochen wegen seiner harten Linie heftig kritisiert worden war, könnte zu Beginn der Fußball-WM dastehen wie Johann Ohneland.

Auch die öffentliche Meinung bläst ihm ins Gesicht: 75 Prozent haben Verständnis für die Ärzte-Anliegen.

Die Forderungen der Klinikärzte

Im Wesentlichen geht es um die Bezahlung, die nach Auffassung des Marburger Bundes deutlich unter dem Gehaltsniveau anderer europäischer Staaten liege. Von den ursprünglich geforderten 30 Prozent Lohnerhöhung ist man zwar nicht abgerückt, doch zeigt man sich bereit, auch Kompensationen zu akzeptieren, etwa bei der Arbeitszeit. Der Unmut der Ärzte richtet sich vor allem gegen die von den Ländern 2004/05 einseitig verfügten Kürzungen des Weihnachts- und Urlaubsgeldes, die zusammen mit höheren Arbeitszeiten zu Einkommensverlusten von 15 bis 20 Prozent geführt haben.

Weiterer Stein des Anstoßes sind die sogenannten "Marathondienste". Beträgt schon die durchschnittliche Arbeitszeit von Klinikärzten rund 60 Wochenstunden, kommen manche Assistenzärzte oft 40 Stunden lang überhaupt nicht mehr aus der Klinik. Ist die Arbeit am Patienten erledigt, beginnt die "Büroarbeit".

Kurz gesagt: Die Ärzte wollen mehr Geld, weniger Arbeitszeit und weniger Bürokratie.

Also setzte man sich nach anfänglichem Säbelrasseln an den Verhandlungstisch. Montgomery wollte direkt mit der TdL verhandeln und kündigte daher im September die Verhandlungsgemeinschaft mit Ver.di auf. Die TdL akzeptierte und verhandelte lang und zäh mit dem Ärztebund. Trotz weitgehender Annäherung lehnte die TdL eine "lineare Anpassung der Entgelte" um 30 Prozent als nicht finanzierbar kategorisch ab.

Gescheiterter Verhandlungs-Slalom

Daraufhin erklärt der Marburger Bund im März das Scheitern der Verhandlungen, führt eine Urabstimmung an den Unikliniken durch und beginnt mit Streikaktionen der Ärzte an Unikliniken; erst nur zwei Tage pro Woche und nur punktuell, schrittweise eskalierend bis zum flächendeckenden Vollstreik. Nach weiteren heftigen Schlagabtäuschen Anfang Mai scheitern die Verhandlungen an verhärteten Fronten. Das Motto der Fußball-WM könnte zum Menetekel deutscher Gesundheitspolitik werden, sollte die Horrorvision einer Stadionkatastrophe eintreten und die medizinische Versorgung durch den Ärztestreik blockiert werden. "Bei Katastrophen ist Schluss mit Streiken", wird Montgomery zitiert, gleichwohl ist ihm der psychologische Druck auf die Politik nicht unangenehm. Von beiden Seiten gibt es Signale, sich noch im Lauf dieser Woche zusammenzusetzen.

Dabei geht es um mehr als nur Geld und Freizeit: Sowohl der Fortbestand der Tarifgemeinschaft steht zur Disposition und damit die bundeseinheitliche Regelung der Landesgehälter als auch die Anerkennung des größten europäischen Ärztebundes als Vertragspartner für Arbeitstarife. Im Grunde aber geht es um die Frage, ob die Ausbeutung junger Ärzte an den Kliniken bis zur Erschöpfung allmählich ein Ende findet. Nicht zuletzt im Interesse der Patienten.

+++ Die Kontrahenten