OECD-Generalsekretär Angel Gurría schlägt Alarm: Kluft bei Einkommen und Vermögen ist unvermindert im Steigen.
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Paris. "Wenn der Boden wegbricht, bricht damit alles auseinander." Dieser warnende Satz findet sich in dem aktuellen OECD-Sozialbericht über die Verteilung von Lohn und Vermögen in den Industrienationen. Man müsse die unteren 40 Prozent der Bevölkerung wieder Anschluss finden lassen an die Besserverdiener.
"Wir haben einen Wendepunkt erreicht. Noch nie in der Geschichte der OECD war die Ungleichheit in unseren Ländern so hoch wie heute", sagt der Chef des Industrieländerclubs, Angel Gurria: Die reichsten zehn Prozent verdienen heute im OECD-Schnitt fast zehnmal so viel wie die ärmsten zehn Prozent. Damit ist die Einkommenslücke binnen einer Generation um fast 40 Prozent gewachsen – in wirtschaftlich guten Zeiten ebenso wie in Krisenjahren. Am gerechtesten werden die Einkommen in Dänemark verteilt. Österreich liegt mit Platz zehn im Vorderfeld der 34 untersuchten Länder, Deutschland auf Platz 14. Bei der Verteilung des Vermögens ist das Gefälle noch deutlich größer – und hier überrundet Österreich Deutschland bei der Unausgewogenheit: In Österreich halten die reichsten 10 Prozent über 61 Prozent des Vermögens, in Deutschland sind es knapp 58 Prozent.
Einkommen als wichtigster Treiber bei der Ungleichheit
Vermögen sind generell ungleicher verteilt als Einkommen. Die untersten 40 Prozent halten nur drei Prozent des Vermögens in den OECD-Ländern. Die vermögendsten zehn Prozent halten die Hälfte des Gesamtvermögens. Die 10 Prozent der Top-Verdiener beziehen dagegen "nur" ein Viertel des Gesamtlohnkuchens.
Trotzdem nennt die OECD-Studie die Einkommensverteilung als den "größten Faktor" in der voranschreitenden Ungleichheit der Gesellschaft, nämlich die wachsende Kluft zwischen Haushalten mit Niedrigeinkommen und dem Rest der Bevölkerung. Das würde nicht nur für die Niedrigstverdiener stimmen – die untersten 10 Prozent bei den Einkommensbeziehern –, sondern sogar für eine viel breitere Schicht der Bevölkerung: nämlich jene Menschen, die zwar etwas mehr, aber trotzdem wenig verdienen. Sie machen 40 Prozent der Bevölkerung aus. Ungleichheit hat damit nicht nur etwas mit Armutsbekämpfung zu tun, meint die OECD, sondern auch, wie man niedrige Einkommen in Angriff nimmt.
Die Organisation für Zusammenarbeit und Entwicklung gibt zu, dass ihre Berichte zur Verteilungsgerechtigkeit in der Vergangenheit oft Kassandra-Rufen gleichzusetzen waren, die wieder verhallten, ohne Auswirkungen zu zeigen. Doch diesmal zäumt die Organisation das Pferd von hinten auf, das heißt, sie verschiebt den Fokus ihres Appells: Ein Kurswechsel sei nicht nur eine Frage der sozialen Fairness, sondern auch des Wachstums.
Es ist keineswegs ein neuer Diskussionsgegenstand; nämlich, wie sich eine wachsende Ungleichheit bei der Einkommensverteilung auf die Volkswirtschaften auswirkt. Einige Ökonomen argumentieren, dass eine Kluft zwischen Reich und Arm größere Anreize bringe, reich zu werden – das heißt, länger arbeiten, mehr studieren, größere Risiken eingehen und alles in allem damit die Wirtschaft ankurbeln. Die anderen Ökonomen argumentieren, dass eine größere Ungleichheit bedeutet, dass Reiche wirtschaftliche Möglichkeiten überproportional besser ausnützen können als Arme. Finanziell schlechtgestellte Familien könnten es sich zum Beispiel nicht leisten, ihrem Nachwuchs die bestmögliche Ausbildung zu ermöglichen. Und sie können keinen Kredit aufnehmen, um etwaige Möglichkeiten zu ergreifen.
Bis vor kurzem, schreibt die OECD, waren die empirischen Daten zu dem Thema uneindeutig. Aber die aktuelle Forschung der OECD zeige, dass das langfristige Auseinanderdriften verfügbarer Einkommen das Wirtschaftswachstum bremst – und zwar signifikant. Nach Berechnungen der Studienautoren hat die steigende Ungleichheit seit 1985 dazu geführt, dass die Wirtschaft in 19 OECD-Ländern zwischen 1990 und 2010 um 4,7 Prozentpunkte weniger gewachsen ist, als das bei unveränderter Ungleichheit der Fall gewesen wäre.
Außerdem zeige die Studie, dass Anstrengungen, Ungleichheiten durch Umverteilung einzugrenzen – etwa durch Steuern oder Beihilfen – das Wachstum nicht einschränken. Allerdings seien die besten Maßnahmen diejenigen, die die Ungleichheiten an der Entstehung hindern; denn Umverteilungen durch Transferleistungen müssen nicht zwangsläufig effektiv oder finanziell nachhaltig sein.
Ein Treiber der Ungleichheit sei das Aufkommen neuer Jobverhältnisse: Mehr als die Hälfte aller Jobs, die seit 1995 entstanden sind, sind in den Worten der OECD, "keine Standard-Jobs": Diese Mehrheit war nämlich entweder "Teilzeit, befristet oder selbständig". Vor allem Frauen und junge Menschen (unter 30) würden in diesen unsicheren oder schlecht bezahlten Verhältnissen arbeiten – Männer im "besten Alter" wären kaum in diesen Jobs zu finden. OECD-weit liege der Anteil von Frauen "im besten Alter" in prekären Jobs bei 40 Prozent, in Österreich sogar bei 70 Prozent. Eine Anhebung des Mindestlohnes sowie leistbare Kinderbetreuung – progressiv nach Einkommen – könnten hier für Verbesserung der Ungleichgewichte sorgen.