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Kurdische Politiker sprechen sich für eine Aussetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara aus.
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Brüssel/Ankara. Faysal Sariyildiz würde wohl noch auf dem Flughafen verhaftet werden. Würde der Abgeordnete der pro-kurdischen Partei HDP in die Türkei zurückkehren, würde er das Schicksal etlicher Fraktionskollegen teilen - im Gefängnis. Gegen den Mandatar liegt ein Haftbefehl vor; ein knappes Dutzend HDP-Parlamentarier ist in den vergangenen Tagen bereits festgenommen worden, darunter die beiden Vorsitzenden der Fraktion, Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag.
Sariyildiz bleibt also fürs Erste im Ausland, in Europa. Nicht so sehr aus Furcht vor dem Arrest. Der Mann ist schon früher im Gefängnis gewesen: Wie so vielen anderen kurdischen Politikern und Aktivisten wurde ihm vorgeworfen, eine Terrororganisation zu unterstützen - die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).
Sariyildiz war auch schon in einer Stadt eingeschlossen. Im Südosten der Türkei lieferten sich zu Jahresbeginn Soldaten der türkischen Armee wochenlang Gefechte mit kurdischen Rebellen. Ausgangssperren wurden verhängt, die Menschen von Strom und medizinischer Versorgung abgeschnitten. Manche Stadtteile von Cizre, Silopi, Idil oder Diyarbakir befanden sich über Wochen im Belagerungszustand. Auch Zivilisten waren dann eingekesselt, starben durch verirrte Kugeln oder eine Rakete. Faysal Sariyildiz blieb in Cizre, während der 79 Tage dauernden Belagerung ebenfalls, berichtete via soziale Medien über die Kämpfe und die Keller, in denen sich Menschen verschanzten und verbrannten.
"Besorgnis reicht nicht"
All das müsste auch in Europa erzählt werden, findet der Politiker. Und es müsste noch lauter protestiert werden gegen das Vorgehen der türkischen Regierung gegen Oppositionelle, Journalisten und Regimekritiker. Deswegen steht Sariyildiz an diesem kalten Vormittag in Brüssel auf dem Schuman-Platz, zwischen den Gebäuden der EU-Kommission und des Rates, umringt von einer Gruppe Unterstützer und liest eine Erklärung seiner Partei vor. Vom gescheiterten Putschversuch im Juli ist darin die Rede und davon, wie das die konservative Regierungspartei AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan dazu benutzte, mit Massenverhaftungen und -entlassungen im öffentlichen Dienst, im Bildungs- und Justizbereich, in Medien und im Parlament für Ordnung in ihrem Sinn zu sorgen.
Und dann folgt der Appell an die Europäer, die mit der Türkei seit Jahren Verhandlungen über einen EU-Beitritt führen und vor Monaten ein Flüchtlingsabkommen zu verstärktem Grenzschutz und zur Rückführung von Asylwerbern geschlossen haben. Worte der Besorgnis, wie sie in den vergangenen Wochen von EU-Politikern zu hören waren, reichen nicht mehr aus, meinen die Kurdenvertreter. Konkrete Schritte seien zu setzen.
Die Maßnahmen, auf die Sariyildiz und seine Parteikollegen drängen, sind Forderungen, die sie bis vor kurzem nicht erhoben haben. Im Gegenteil: Sie befürworteten die Beitrittsgespräche mit Ankara. Nun aber sollten diese ausgesetzt werden, sagt Sariyildiz der "Wiener Zeitung": "Die EU hat immer auf die Einhaltung von Menschenrechten gepocht, daher darf sie keine Verhandlungen führen, solange die Regierung nicht die Bedingungen dafür erfüllt." Auch die Finanzhilfe, die Beitrittskandidaten für die Anpassung an EU-Standards erhalten, sollte eingefroren werden, betont der Parlamentarier. Das Geld diene nämlich nicht der demokratischen Entwicklung, sondern dem Kampf gegen Oppositionelle, Kurden und andere Minderheiten.
Wirtschaftliche Druckmittel
Von wirtschaftlichen Druckmitteln haben denn auch schon EU-Politiker gesprochen. So wies Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn auf die Wichtigkeit der Union als Handelspartner hin: Immerhin gehe die Hälfte der türkischen Ausfuhren nach Europa und kommen an die 60 Prozent der Investitionen in der Türkei aus der EU.
Der österreichische Bundeskanzler Christian Kern wiederum knüpfte die Auszahlung der Flüchtlingshilfe für Schutzsuchende in der Türkei an die Einhaltung des Flüchtlingspaktes. Ähnlich äußerte sich Außenminister Sebastian Kurz.
Ein Stopp der Beitrittsverhandlungen mit Ankara hingegen, wie ebenfalls schon einmal von Kern gefordert, ist derzeit nicht wahrscheinlich. Die EU-Kommission, die am heutigen Mittwoch ihre jährlichen Berichte über die Beitrittskandidaten präsentiert und der Türkei statt Fortschritten Rückfälle attestiert, wird keine Empfehlung zu einer Aussetzung der Gespräche abgeben, solange nicht mindestens ein Drittel der Mitgliedsländer dies befürworten würde.
Das zeichnet sich aber - noch - nicht ab. Stattdessen betonte EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini im Namen der EU-Staaten die Bereitschaft, "den politischen Dialog mit der Türkei auf allen Ebenen" fortzusetzen. Gleichzeitig rief sie Ankara dazu auf, zu einem "glaubwürdigen politischen Prozess" zurückzukehren.