Knapp 450.000 SPD-Mitglieder entscheiden über GroKo, NoKo oder Neuwahlen.
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Das ist neu in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland: Bei den Wahlen im September fiel die Große Koalition (GroKo) aus CDU/CSU und SPD um 14 Punkte auf beispiellose 53 Prozent zurück - eine Katastrophe, gemessen am Höchststand von 77 Prozent im Jahr 2002. Die Union versuchte es mit der "Jamaika"-Koalition ohne SPD und scheiterte. So blieb CDU und CSU nur noch eine neue Groko mit der SPD. Also mutete die SPD der Öffentlichkeit eine Zitterpartie zu: Ein Parteitag sollte das Sondierungspapier mit Punkten für Koalitionsverhandlungen mit der Union billigen. Das glückte zwar mit 56 Prozent, hinterließ aber eine gespaltene Partei.
Aber jetzt beginnt es erst: Union und SPD wollen ehestens einen Koalitionsvertrag aushandeln. Über diesen müssen dann aber noch die knapp 450.000 SPD-Mitglieder abstimmen. Falls sie ihn ablehnen sollten, müsste die im September von 41,5 auf einen historischen Tiefpunkt von 32,9 Prozent zurückgefallene Union eine Minderheitsregierung bilden. Um Gesetze durch den Bundestag zu bringen, bräuchte sie dann mindestens die Zustimmung der Grünen und der FDP. Sollte dies misslingen, wären Neuwahlen kaum vermeidbar, obwohl sie keine durchgreifende Änderung verheißen würden.
Diese Perspektiven unterstützt das jüngste Politbarometer vom Freitag: Wären am nächsten Sonntag Neuwahlen, kämen die Union auf 33 Prozent und die SPD mit 18 Prozent auf einen Negativrekord. Durchaus bemerkenswert sind die Umfragen zu den Sondierungsgesprächen: 45 Prozent der Deutschen halten die GroKo für gut, 36 Prozent für schlecht, 17 Prozent ist das Thema egal. 47 Prozent der SPD-Anhänger sind für eine GroKo, 51 Prozent für den Abgang der SPD in die Opposition. Scheitert die GroKo, befürworten 54 Prozent Neuwahlen und 43 Prozent eine Minderheitsregierung der Union. Besonders sticht ins Auge: In einer Umfrage nach den Wahlen wünschten noch 62 Prozent Angela Merkel weiterhin als Kanzlerin, vorige Woche waren es 54 Prozent.
Umfragen sind nur Momentaufnahmen, gleichwohl zeigen sie einen Trend an. Die GroKo wird als Stillstand, leistungsschwach und energielos empfunden. Deshalb hoffen die Menschen auf einen "Wandel". Damit ist das Führungspersonal gemeint. Merkels Nachfolge ist in der CDU kein Generalthema. Die bayrische CSU hat die politischen Weichen auf einen geordneten Übergang von Parteichef und Ministerpräsident Horst Seehofer auf den jungen Markus Söder gestellt. In der SPD rühren die Jusos gehörig um, können aber keinen Nachfolger für Parteichef Martin Schulz in Stellung bringen.
Die Union wäre der große Verlierer
Schulz erklärte am Wahlabend im September den Ausstieg der SPD aus der GroKo und vertrat das auf Parteiveranstaltungen landauf, landab nachdrücklich - auch mit dem guten Argument, man dürfe die Opposition nicht den Rechtspopulisten der AfD und der Linkspartei überlassen. Seit der "Jamaika"-Pleite tritt er für die Fortsetzung der GroKo ein und bekam dafür auf dem Parteitag eine knappe Zustimmung.
Bei einem Scheitern der GroKo wäre die Union der große Verlierer. Sie kann das vermeiden, wenn sie der SPD in den Koalitionsverhandlungen so viel zugesteht, dass diese bei der Stange bleibt. Das beträfe unter anderem die SPD-Wünsche nach einer "Mietpreisbremse" bei maximal 10 Prozent über dem ortsüblichen Niveau, einer Rente ohne Abschlag mit 63 Jahren nach 45 Beitragsjahren, einem Verbot von ohne sachlich zwingenden Grund befristeten Arbeitsverträgen oder monatlich 1000 Personen Familiennachzug für Flüchtlinge.
Die für Deutschlands nächste Legislaturperiode entscheidende Frage werden die SPD-Mitglieder mit ihrem Urteil über die GroKo beantworten: NoKo würde dann ein Nervenspiel mit Neuwahlen im Führungsstaat der EU bedeuten. Das wird auch eine Entscheidung darüber, ob Deutschland mit dem jungen französischen Präsidenten Emmanuel Macron jene starke Achse bilden kann, die Europa gegenüber den USA, der Türkei, Russland, Ungarn und Polen braucht.