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Unruhen und ihre ungelösten Ursachen

Von Stefan Haderer

Gastkommentare

Was sich in den vergangenen Tagen in englischen Städten abgespielt hat, ist nichts Neues für Europa. Beachtenswert ist vor allem, was man aus der Gewalt herauslesen kann - oder eher: muss.


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Die Krawalle in London haben sich wie ein Flächenbrand in andere Städte Großbritanniens ausgebreitet. Obwohl es viele Politiker zu vergessen scheinen, war die Ermordung des 29-jährigen Mark Duggan im Problemviertel Tottenham nur der zündende Funke, der zur andauernden Gewalt, zu Vandalismus und Plünderungen geführt hat. Ursache dafür war die Tat nicht.

Die derzeitigen Ereignisse sind nichts Neues für Europa: Einmal abgesehen von den gewalttätigen Unruhen in Pariser Vororten und französischen Städten 2005 erinnere man sich an den 15-jährigen Griechen Alexandros Girgoropoulos, der am 7. Dezember 2008 durch die Kugel eines Polizisten ums Leben kam. Sein Tod löste eine Reihe von Straßenschlachten in Athen aus, die Exekutive griff zu den härtesten Mitteln. Mit Gewalt demonstrierte die griechische Jugend damals gegen die Korruption im eigenen Land, gegen die Regierung und gegen ein demokratieschwaches System. Auch in Großbritannien ist die soziale Kluft zwischen Arm und Reich extrem, nicht jeder kann sich auf ein - ohnehin wenig ausgeprägtes - soziales Absicherungsnetz stützen.

Wie Schall und Rauch klingen da die Worte von Garry Shewan, dem stellvertretenden Polizeipräsidenten aus Manchester: "Sie haben keinen Grund zu protestieren. Das Ganze ist so sinnlos, wie ich es noch nie in meinem Beruf erlebt habe." Für Premierminister David Cameron, der angekündigt hat, hart durchzugreifen, mag diese Aussage durchaus zutreffen, für die Menschen auf den Straßen ist sie wahrscheinlich reine Provokation.

In den vergangenen Tagen haben Wut und Not auf den Straßen Londons, Manchesters und Birminghams ein Gesicht bekommen, von dem sich Regierung und Medien nicht länger abwenden können. Die Leidtragenden am Chaos sind aber Menschen, die sich selbst eine Existenz erarbeitet haben oder aufbauen möchten. Gewaltsame Übergriffe und Zerstörung sind in keiner Weise zu rechtfertigen, die Regierung müsste allerdings anfangen, die Gründe allen Übels zu hinterfragen.

Die zunehmenden Proteste in Europa - seien sie auch nur vereinzelte Phänomene - spiegeln Unzufriedenheit wider. Gleichzeitig zeigen sie aber die Gefahr auf, dass soziale Armut durch Gewalt gerechtfertigt wird und sich in Fremdenhass und rassistisch motivierte Brutalität überschlägt - ein Gefahrenpotenzial, das jeden Staat Europas erfassen kann.

Nach längerem Zögern hat Cameron angekündigt, einen Blick auf "tiefere Probleme" zu werfen und Familien und Schulen zu untersuchen. Ob Maßnahmen zur Verringerung der sozialen Kluft gesetzt werden, bleibt fraglich. Außerdem hat sich der britische Premier an US-Sicherheitsexperten gewandt, um dem Treiben der Gangs in den Straßen ein Ende zu bereiten. Undenkbar ist es nicht, dass sich der Vorzugsverbündete Großbritanniens, die USA, bald mit ähnlichen Problemen auseinandersetzen muss.

Stefan Haderer ist Kulturanthropologe und Politikwissenschafter.

Dieser Gastkommentar gibt ausschließlich die Meinung des betreffenden Autors wieder und muss sich nicht zwangsläufig mit jener der Redaktion der "Wiener Zeitung" decken.