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"Uns droht die Apollo-Sputnik-Falle"

Von Walter Hämmerle

Politik
Der ehemalige SPÖ-Vorsitzende (2000-2008) und Kanzler (2006-2008) Gusenbauer ist EU-Referent der NÖ-AK. Foto: Newald

Gusenbauer: "Green technologies" als Konjunkturmotor der Zukunft. | "USA drohen Europa zu überholen." | "Politisierung der EU notwendig." | "Wiener Zeitung": Europa-Wahlkampf ist - haben Sie es schon bemerkt? | Alfred Gusenbauer:Ich habe registriert, dass entsprechende Plakate hängen.


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Und inhaltlich?

Es wäre unfair, wenn ich inhaltliche Bewertungen zu einzelnen Parteien abgeben würde, da ich keine Details verfolgt habe. Meine aktuellen Erfahrungen an niederösterreichischen Schulen sind, dass bei vielen Jugendlichen eine konstruktive Stimmung gegenüber Europa besteht, ein recht guter Informationsstand und die Bereitschaft zu einem vorurteilsfreien Gespräch darüber, was europäische Politik machen soll und kann. Daher würde es mich nicht wundern, wenn die Wahlbeteiligung der Jungen über dem Durchschnitt ist.

Zugespitzt formuliert: Eigentlich müsste die EU froh über die Wirtschaftskrise sein. Immerhin hat sie jetzt die Chance, den Leuten zu zeigen, wozu sie gut ist.

Eine Krise dieses Ausmaßes kann man sich nicht wünschen, ganz gleich welche positiven Begleiterscheinungen diese haben mag. Immerhin drohen bis 2010 in Europa 8,5 Millionen Jobs wegzufallen. Noch mehr bereitet mir allerdings Sorgen, dass im Sommer ein ganzer Jahrgang junger Leute auf den Arbeitsmarkt strömen wird und diese kaum Chancen auf einen Job haben werden. Wenn schon der Einstieg ins Berufsleben blockiert ist, dann könnten die Jungen den Eindruck gewinnen, dass sie um ihre Zukunft betrogen werden. Diese Gefahr birgt enormen sozialen und gesellschaftspolitischen Sprengstoff.

Gleichzeitig erkennen aber natürlich immer mehr Menschen, dass ein Alleingang bei der Krisenbekämpfung für Länder wie Österreich überhaupt keinen Sinn macht und nur eine gemeinsame europäische Strategie Abhilfe schaffen kann. Dieser gestiegenen Erwartungshaltung muss die EU entsprechen. Tut sie das nicht, droht das wieder ins Gegenteil umzuschlagen. Wenn ich mir nur den Umfang des Bankenrettungspakets vom Herbst anschaue, dann habe ich den Verdacht, dass jetzt die Projekte zur Stimulierung der Konjunktur leider noch nicht die gleiche Größe haben. Das könnte noch gefährlich werden.

Welche Maßnahmen sollte Europa ergreifen?

Europa muss vor allem etwas Eigenständiges machen. Man muss Folgendes bedenken: Die Stimulierungsmaßnahmen der USA sind real rund doppelt so groß wie jene der EU. Nun war es früher so, dass sich Europa darauf verlassen konnte, im Sog einer Erholung der USA selbst mit nach oben gezogen zu werden. Nun konzentriert sich das US-Konjunkturpaket jedoch auf interne Wachstumsfaktoren wie Investitionen in die Infrastruktur, ins Gesundheitssystem und in "green technologies". Selbst wenn diese Impulse ihre Wirkungen entfalten werden, wovon ich ausgehe, wird Europa davon also nicht unmittelbar profitieren. Dazu kommt, dass sich die Konkurrenz auf den Exportmärkten durch das starke China verschärft hat. Sollten die USA also doch wieder vermehrt importieren, dürfte China davon mehr profitieren als Europa. Die EU müsste deshalb ein für sie selbst maßgeschneidertes Programm zur Konjunkturbelebung umsetzen.

Welche Eckpunkte müsste dieses Programm aufweisen?

Das beginnt mit der Einsicht, dass die Menschen künftig wohl nicht mehr nur durchschnittlich vier Monate, sondern womöglich zwei Jahre lang arbeitslos sein werden. Diese lange Zeit muss zur Qualifizierung- und Re-Qualifizierung genutzt werden. Darüberhinaus braucht jede Konjunktur einen technologischen Innovationsträger, was nichts anderes bedeutet, als dass etwas Neues erfunden wird, das dann im Laufe der Zeit alle wollen wie es etwa beim Auto, beim Fernseher oder beim Computer war. Ich glaube, wir können davon ausgehen, dass der nächste positive technologische Konjunkturträger die "green technologies" sein werden, dafür sprechen energie-, umwelt- und klimapolitische Gründe.

Europa und vor allem Österreich sind hier in einer interessanten Situation: Wir sind Marktführer und haben hervorragende Unternehmen, doch droht uns die so genannte Apollo-Sputnik-Falle: Die USA waren vom Erfolg der Sputniks so geschockt, dass sie beschlossen, die Führung in der Weltraumtechnologie zu erobern, indem sie den ersten Menschen auf den Mond bringen wollten. Auch Europa führt derzeit in den Umwelttechnologien, aber die USA zielen mit ihrem Stimuluspaket genau darauf ab, hier die Führungsrolle zu erobern. Europa muss mit einem industriepolitischen Schwerpunkt kontern.

Der dritte Aspekt eines EU-Stimuluspakets betrifft die Infrastruktur, hier gibt es bei Schiene und Straße nach wie vor enormen Aufholbedarf. Viertens müssen wir massiv in all jene Teile Europas investieren, die den Charakter von "emerging markets" haben. Das sind letztendlich die mittel- und südosteuropäischen Staaten. Schließlich bin ich überzeugt davon, dass die Frage einer gerechten Steuerverteilung innerhalb Europas immer mehr zu einer entscheidenden wirtschaftspolitischen Frage wird. Größere soziale Gerechtigkeit ist für mich nicht nur ein Zusatzziel von Politik, sondern ein Schlüssel zur Lösung, weil so neue Nachfrage geschaffen werden kann.

Alle Umfragen belegen die tiefsitzende EU-Skepsis der Österreicher. Warum?

Europa ist hierzulande oft eine Reflexionsfläche für innenpolitische Auseinandersetzungen. Das funktioniert deshalb ganz gut, weil sich die meisten Menschen nicht damit beschäftigen, auf welcher Kompetenzebene welche Sachentscheidungen fallen. Das verleitet die Politik dazu, die Verantwortung für negative Entwicklungen auf die nächste Ebene abzuschieben. Dieses Verantwortungsdelegationsprinzip in unangenehmen Fragen ist ein inhärentes Element der österreichischen Politik.

Bei EU-Fragen kommt noch dazu, dass bei Wahlen zum Landtag oder Nationalrat niemand auf die Idee kommt, gegen Niederösterreich oder Österreich zu stimmen. Hier funktioniert das Kernelement von Demokratie, nämlich dass ich eine Regierung bestätigen oder eben abwählen kann. Dieses Politisierungselement fehlt auf europäischer Ebene, was dazu führt, dass EU-Wahlen zu Abstimmungen über pro oder contra Europa instrumentalisiert werden.

Was kann dagegen unternommen werden?

Wir müssen Europa weiter politisieren, indem die EU-Wahl genauso eine Abstimmung über Personen und politische Konzepte wird, wie dies bei anderen Wahlen auch der Fall ist. Wir brauchen dringend den Vertrag von Lissabon, der ein Schritt in diese Richtung ist. Ich würde eine Direktwahl eines Europäischen Präsidenten befürworten, auch wenn diese parlamentarisch organisiert wird. So könnte etwa der Listenführer der stimmenstärksten Fraktion im EU-Parlament Präsident werden. Im Lissabon-Vertrag ist das Vorschlagsrecht der stärksten Fraktion für den Kommissions-Präsidenten vorgesehen.

Ist Österreichs politische Elite provinzieller als in anderen EU-Ländern?

Die österreichische Seele schwankt immer zwischen zwei Extremen - zwischen Wödmasta und akutem Minderwertigkeitskomplex. Ich habe sicher eine Reihe herausragender Persönlichkeiten auf europäischer Ebene und aus anderen Ländern kennenlernen dürfen, aber grosso modo kochen alle anderen auch nur mit Wasser.

Heißt das, dass das Niveau von anderen Politikern auch nicht höher ist, oder dass Österreichs Vertreter ohnehin ganz gut sind?

Das ist eine nüchterne analytische Feststellung.

"Ich befürworte eine Direktwahl des Europäischen Präsidenten."