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Deutschlands Bundespräsident Wulff erinnert stark an Karl-Heinz Grasser: Beiden fehlt es am Gespür dafür, was geht und was nicht.
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Bisher schien es ja, als hätte Österreichs Politik einen europaweit nahezu führenden Verbrauch an Unschuldsvermutungen. Doch jetzt holt Deutschland mächtig auf. Ob Bundespräsident Christian Wulff gegen ein Gesetz verstoßen hat, indem er von einem Unternehmerehepaar einen überaus günstigen Kredit aufgenommen, seine Urlaube gerne kostengünstig auf den komfortablen Latifundien reicher Freunde verbracht und wohl noch andere kleine Vergünstigungen abgegriffen hat, müssen vermutlich letztlich die Gerichte klären. Bis dahin: Willkommen im Klub der Unschuldsvermuteten, Herr Bundespräsident!
Gegen ein Gesetz, das nicht der Rechtsstaat formuliert, sondern die bloße Vernunft, hat Wulff ganz sicher verstoßen: jenes, wonach man - und ganz besonders als hoher Politiker - nicht alles tun soll, was nicht ausdrücklich verboten ist. Sowohl unter den bürgerlichen als auch unter den sozialistischen Eliten galt bis tief ins 20. Jahrhundert für bestimmte, vom Gesetz nicht erfasste Tatbestände die simple Regel: "Das tut man einfach nicht." Nicht, weil es strafbar wäre, sondern weil es sich nicht gehört. Weder bei Josef Klaus (ÖVP-Kanzler der 1960er Jahre) noch etwa bei Franz Jonas (SPÖ-Bundespräsident) kann man sich auch nur annähernd vorstellen, dass sie sich nicht an diesen Imperativ gehalten hätten.
Wulff hingegen erinnert in vielem an Karl-Heinz Grasser: Wie jener hat er in seiner politischen Karriere stets gerne die Nähe der Geschäftswelt gesucht und offenbar auch am Lebensstil dieses Milieus zu partizipieren versucht - und scheint dabei nicht übertrieben oft von der Frage gequält worden zu sein, ob gewisse Grauzonen ein geeigneter Aufenthaltsort für Spitzenpolitiker sind.
Das Publikum findet derartigen Glamour mit hohem Hallodri-Faktor zwar einige Zeit ganz amüsant, doch sobald sie zu streng riechen und zu viele Unschuldsvermutung verbrauchen, sind solche Politiker politisch erst lahm und dann tot. Das gilt für Grasser und bald auch für Wulff: Ein "Tschuldigung" reicht da nicht.
Es spricht nicht eben für die politische Klasse, dass sie nicht wirklich zu verstehen scheint, welch große Marktnische Politiker dieses halbseidenen Typus eröffnen. Geradezu physisch greifbar ist heute die Sehnsucht sehr vieler Menschen nach politischem Führungspersonal, dessen Integrität völlig außer Streit steht; sowohl was Geld anlangt als auch politische Inhalte. Einer wie Karl Schwarzenberg etwa, Außenminister und vielleicht bald Präsident der Tschechen, verfügt über genau diese Qualitäten - und erzielt damit höchst beachtliche Erfolge.
In wirtschaftlicher Hinsicht werden die Politiker den Wählern in naher Zukunft Verzicht und Einbußen zumuten müssen, und das vermutlich nicht zu knapp. Politiker vom Typus Schwarzenberg werden dabei mit Sicherheit viel eher unangenehme Wahrheiten aussprechen und politisch umsetzen können als die Halbseidenen, die Windhunde und die Unschuldsvermuteten.
Die Nachfrage nach Anstand, Charakter und Wahrhaftigkeit ist am politischen Markt gerade ziemlich hoch. Wer sie glaubwürdig befriedigt, dürfte vom Wähler reichlich belohnt werden.
ortner@wienerzeitung.at