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"Uns ist der Biss für Neues verloren gegangen"

Von Walter Hämmerle

Europaarchiv
Phillip Blond: "Big State" hat seinen Höhepunkt erreicht - weniger ist für ihn mehr.

Insel-Ansichten: Warum Camerons Veto der EU einen Dienst erwiesen hat.


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"Wiener Zeitung": Großbritanniens Premier David Cameron hat mit seiner Entscheidung, sich nicht an den Maßnahmen zur Rettung des Euro zu beteiligen, eine intensive Debatte über die Rolle Londons in Europa ausgelöst. Sie gelten als enger Berater Camerons: Hat dieser eine klare Strategie für Europa?Phillip Blond: Das ist die spannende Frage. Großbritannien benötigt dringend eine klare europäische Strategie, ich befürchte allerdings, dass sie erst noch entwickelt werden muss. Ich bin überzeugt, obwohl es für viele eigenartig klingen mag, dass sein Veto gut für Europa und sogar gut für die Euro-Zone gewesen ist. Es hat sichergestellt, dass die Institutionen der Union getrennt bleiben von den Institutionen der Euro-Zone. Mittlerweile haben viele erkannt, auch wenn sie es nur hinter vorgehaltener Hand zugeben, dass diese Trennung ein Gebot der Stunde für das Überleben der Union ist.

Wer sind diese Vielen? Auf dem Kontinent sieht London in dieser Frage weitgehend isoliert aus.

Da bin ich mir nicht so sicher. Der Versuch von Angela Merkel, über alle Euro-Staaten eine straffe Austeritätspolitik zu stülpen, wird in immer mehr Ländern zur Erkenntnis führen, dass dieses Rezept für sie nicht funktioniert. Und selbst wenn Merkels Strategie aufgehen sollte, was ich nicht glaube, wird dies dazu führen, dass die Bürger an der Peripherie grundlegende demokratische Rechte verlieren, etwa das Recht, ihre Finanz- und Wirtschaftspolitik zu gestalten. Permanente Austeritätspolitik bedeutet hier permanente Deflation ohne die Möglichkeit einer Abwertung. Das wiederum führt zu sozialen Unruhen, zum Aufstieg von Rechtspopulisten, Anti-EU-Parteien und schließlich zur Forderung großer Teile der Bevölkerung nach einem Austritt aus der Euro-Zone, am Ende vielleicht sogar aus der EU selbst. Man kann nicht alle Länder einfach nach dem Modell Deutschlands umformen.

Allerdings kann Griechenland auch unmöglich Griechenland bleiben, wie wir es kennen: ein Land ohne funktionierende Verwaltung, in dem niemand Steuern zahlt.

Ja, da haben Sie völlig recht. Aber was hat die Griechen daran gehindert, sich zu modernisieren, ihre Wirtschaft wettbewerbsfähig zu machen? Der Euro. Und nun verhindert exakt jene Austeritätspolitik, die den Euro retten soll, erneut eine nachhaltige Sanierung Griechenlands, weil die Wirtschaft einbricht und der Anteil der Schulden weiter steigt. Europa fehlt ein vernünftiger Wachstumsplan, das ist das zentrale Problem der deutschen Strategie für Europa. Missverstehen Sie mich nicht: Eine konservative Fiskalpolitik ist grundsätzlich richtig, in der jetzigen Situation brauchen wir jedoch auch Strategien für mehr Wachstum, andernfalls fürchte ich nicht nur den Zerfall der Euro-Zone, sondern der gesamten EU.

Sie argumentieren Camerons Veto mit der Sorge um den Zusammenhalt der EU. Aus anderer Perspektive stand der Schutz der Londoner City im Vordergrund, des weltweit größten Finanzzentrums.

Das ist tatsächlich eine Standarderklärung, ich halte sie dennoch für grundfalsch. Camerons Veto erfolgte vorrangig aus innenpolitischen Gründen: Hätte er anders gehandelt, hätte dies in letzter Konsequenz wohl zu einem Referendum über den EU-Austritt Großbritanniens geführt. Das galt es zu vermeiden. In Wirklichkeit hat Cameron mit seinem Veto dafür gesorgt, dass Großbritannien in der EU bleibt, das sollte auch auf dem Kontinent gewürdigt werden. Andernfalls würde die Euro-Zone unweigerlich sämtliche Institutionen der EU aufsaugen. Das wäre fatal, weil Europa einen Rahmen braucht für jene Staaten, die nicht den Euro wollen beziehungsweise nicht oder noch nicht fit dafür sind. Europa braucht ein Institutionengefüge außerhalb der Euro-Zone.

Mit Großbritannien als Anwalt für all jene Staaten, die mit dem Modell, an dem das deutsch-französische Tandem arbeitet, nichts anfangen können?

Großbritannien sollte auf jeden Fall seine jetzige Position als großes EU-Land außerhalb der Euro-Zone dazu nutzen, auf jene Länder zuzugehen, die ebenfalls nicht an die deutsch-französischen Rettungsversuche glauben und sich auch nicht den Zentralisierungstendenzen unterwerfen wollen. Ob Cameron allerdings meinem Rat folgen wird, weiß ich nicht. Ich will überhaupt nicht die zahllosen Fehler der Griechen in der Vergangenheit verteidigen, das liegt mir fern, ich will nur nicht Länder für immer in ein System sperren, dessen Versagen bereits bewiesen ist. Stattdessen müssen wir darüber nachdenken, wie wir Europa neu strukturieren, um mit seiner unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit umgehen zu können. Zentrale Reformen können nicht funktionieren, weil diese am Ende lediglich anti-europäischen Populismus hervorrufen. Stattdessen müssen wir den Staaten die Möglichkeit geben, wieder für sich selbst verantwortlich zu sein.

Sie haben den Ruf eines konservativen Vordenkers und wollen Planungshoheit und Budgets radikal umverteilen: weg von den Zentralregierungen, hin zu Gemeinden. Was versprechen Sie sich davon?

Im 21. Jahrhundert haben wir das Maximum staatlicher Planungshoheit erreicht; gleichzeitig müssen wir erkennen, dass diese Machtfülle für die Bürger zu immer unbefriedigenderen Ergebnissen führt. Wir pumpen zig Milliarden in die Sozialsysteme und erhalten doch immer weniger zufriedenstellende Resultate. Die Effizienz des privaten Sektors ist von 1997 bis 2007 um 28 Prozent gestiegen, jene des öffentlichen Sektors dagegen um 3,4 Prozent gefallen. "Big State" erfüllt also schon rein konzeptionell nicht mehr die immer heterogeneren Bedürfnisse der Bürger. In Großbritannien haben wir Regionen, wo die Lebenserwartung auf dem Niveau der Subsahara liegt, und solche, wo sie zu den höchsten in Europa zählt. Wir brauchen nicht für jeden Bürger die gleiche Dienstleistung, sondern einen Staat, der jedem Bürger genau das gibt, was dieser benötigt. Konkret heißt dies etwa Individualisierung des Gesundheitssystems. Gemeinden sollen dabei in die Lage versetzt werden, über die Mittel frei zu verfügen.

Woher kommt das hierfür notwendige Know-how?

Indem die Gemeinden auch das notwendige Personal anheuern können. Im Endergebnis würde dies dazu führen, dass Gemeinden aus ihrer Lethargie geholt, ihr Unternehmergeist neu geweckt wird. Der Staat ist dann nicht länger eine riesige Geldverteilungsmaschinerie zweck Generierung von Einkommen, sondern er stellt Kapital für die Nachfrage nach maßgeschneiderten Angeboten für Bedürfnisse zur Verfügung. Dazu braucht es allerdings ein völlig neues Denken, das schon in den Schulen beginnen muss.

Was ist rechts an Ihren Ideen?

Ich lehne die linke Konzeption des Wohlfahrtsstaates ab, weil er die Menschen nicht befreit, sondern nur in neue Abhängigkeiten, jetzt eben vom Staat, führt. Gleichzeitig hat sich für die Konservativen der Neoliberalismus als katastrophaler Irrweg herausgestellt. Dieser hat die Bürger auf ihre Rolle als Konsumenten reduziert und sich doch auf den Staat als Retter verlassen. Gleichzeitig entstand ein mono- und oligopolistischer Kapitalismus, von dem nur Konzerne profitieren. Stattdessen müssen wir die Bedingungen für kleine und mittlere Unternehmen verbessern, sie sind es, die Innovationen und Wachstum schaffen. Das hat in Deutschland ausgezeichnet funktioniert, nicht aber auf einer europäischen Ebene. Da müssen wir hin.

Und wie?

Kultur ist der Schlüssel für alles. Europa hat die Fähigkeit verloren, sich selbst ständig neu zu erfinden. Wir sind selbstzufrieden, behäbig geworden, uns fehlt der Biss für Neues. Wir müssen ein neues europäisches Modell entwickeln, uns mit unternehmerischen Mitteln neu erfinden.

Zur Person

Phillip Blond

Der britische Philosoph und Publizist gründete 2009 den reform-konservativen Think Tank ResPublica und gilt als Kopf hinter David Camerons Konzept der "Big Society". Blond ist Impulsredner beim heutigen "com.sult" Kongress in Wien.