Die Fakten zur österreichischen | Seele sind trist. | Die Aussichten auf eine Veränderung sind es ebenfalls. | Wien. Marianne Springer-Kremser, Leiterin der Universitätsklinik für Tiefenpsychologie und Psychotherapie Wien, brachte es kürzlich auf den Punkt: "Wir alle leben in einem Kontinuum zwischen Normalität und Verrücktheit." Das selbe lässt sich über die Situation von Menschen mit psychischen Störungen und Erkrankungen sowie über deren Versorgung sagen. Am 10. Oktober ist alljährlich "Welttag der Psychischen Gesundheit", um auf die Problematik aufmerksam zu machen. Doch Konsequenzen daraus werden in der Folge kaum bis gar nicht gezogen.
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Ein Beispiel dafür ist die Depression, das psychische Volksleiden der Österreicher: Rund zehn Prozent, also etwa 800.000, sind von dieser Geißel betroffen. Gut und gern die Hälfte von ihnen ist direkt behandlungsbedürftig. Kausal und zum Teil überlappend kommen hinzu 400.000 Menschen mit Angstbzw. Zwangsstörungen, mehr als 300.000 Alkoholkranke - und noch weit mehr auf dem Weg dorthin - sowie 100.000 von Medikamenten Abhängige (meist Frauen).
Zwei Millionen Krankenstandstage
Depressive und Suchtkranke haben ein bis zu 20-fach höheres Suizidrisiko. Im Jahr 2004 töteten sich 1419 Menschen. Und etwa ein Drittel der wegen einer körperlichen Erkrankung in einem Spital aufgenommenen Patienten leidet - zumeist unerkannt - gleichzeitig auch an einer psychischen Störung. Soweit die aktuellen Fakten, die sich jedoch von Jahr zu Jahr kaum - und schon gar nicht zum Besseren - verändern.
Fazit: Während die Zahl der Krankenstandstage insgesamt abgenommen hat, steigt sie bei den psychischen Gesundheitsproblemen - zuletzt auf geschätzte zwei Millionen. Und auch als Ursache von Berufsunfähigkeit rücken psychische Erkrankungen immer mehr in den Vordergrund und sind derzeit bereits zweithäufigster Grund für die Zuerkennung von Invaliditätspensionen.
Doch während seelische Leiden 20 Prozent der Krankheitslast ausmachen, werden EU-weit im Durchschnitt nur 5,8 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben dafür aufgewendet. Und Schätzungen gehen davon aus, dass durch die Nichtbehandlung die Arbeitsleistung derart vermindert wird, dass die dadurch entstehenden Kosten fünf Mal so hoch sein könnten wie jene, die durch Fehlzeiten verursacht werden.
Die Alarmglocken läuten schon lange, echte Reaktionen sind bisher ausgeblieben und der Effekt der einer Zwei-Klassen-Medizin.
Mindestversorgung ist nicht erreicht
Fachleute wie Stephan Rudas vom Institut für Psychosoziale Forschung kritisieren vor allem die "massive Ungleichbehandlung" seitens des Sozialversicherungssystems: Immer noch gebe es keine Psychotherapie auf Krankenschein, also keine Kostenerstattung. Auch Univ.-Prof. Karin Gutierrez-Lobos von der Universitätsklinik für Psychiatrie Wien sieht eine gesicherte Finanzierung als unabdingbar, bisher trügen immer noch die Patienten die finanzielle Hauptlast - "der Mindestversorgungsgrad für psychotherapeutische Behandlung ist nach wie vor nicht erreicht."
Die aktuellen Berechnungen unterstreichen diese Forderung: Zur Zeit wird in Österreich fünf Mal mehr Geld für Psychopharmaka ausgegeben als für Psychotherapie. Laut einer Untersuchung des Österreichischen Bundesinstituts für Gesundheit (ÖBIG) werden dagegen lediglich 20 Prozent des geschätzten Psychotherapiebedarfs über Zuschuss der Krankenkassen gedeckt. - Und das wider die Vielzahl wissenschaftlicher Studien, die nicht nur die nachhaltige Effizienz dieser Therapieform belegen, sondern auch die beträchtlichen Einsparungen für das Sozialsystem , die sich daraus in der Folge gewinnen lassen.
Psychopillen statt zielführender Gespräche mit den Fachleuten: Wie es scheint, haben sich sämtliche Entscheidungsträger im Gesundheitssystem, aber auch die meisten Ärzte diesem Status quo ergeben, weil es dank der beträchtlichen Leistungen der pharmazeutischen Industrie diesen so einfachen Weg gibt.
Allerdings führen die meisten der gängigen Antidepressiva direkt zur Abhängigkeit, da auf Grund der oft fatalen Begleiterscheinungen nur wenige Menschen den Ausstieg schaffen - nicht selten über den Umweg anderer Medikamente und stationärer Aufenthalte. Und da die Ursache der Krankheit dabei unbehandelt bleibt, werden viele zu lebenslangen, von Medikamenten abhängigen Patienten. Das kann letztlich teuer kommen.
Strukturelle Diskriminierung
Angenommen, ein Patient wird binnen eines Jahres erfolgreich psychotherapiert, so kostet ihn das im Durchschnitt 3360 Euro und er ist danach für zumindest zehn Jahre beschwerdefrei oder überhaupt geheilt. - Ist er hingegen gezwungen, über zehn Jahre hindurch täglich eine Tablette einzunehmen - eines der meistverschriebenen, weil angeblich so billigen Generika gegen Depressionen und Angststörungen kostet pro Stück fast einen Euro - ergibt dies insgesamt rund 3700 Euro, die - abzüglich Rezeptgebühr, zuzüglich Arztbesuch - von den Kassen übernommen werden. Würden die Kassen die Psychotherapie auch nur zu 50 Prozent bezuschussen, wären sowohl sie als auch die Betroffenen deutlich entlastet.
Eine Milchmädchenrechnung? Zugegeben, aber prinzipiell ist sie dennoch keineswegs unrichtig.
Berücksichtigt man weiters, dass benachteiligte Bevölkerungsgruppen eine höhere Anfälligkeit für psychische Störungen auf der Basis von Unsicherheit, raschem sozialen Wandel, ökonomischer Hoffnungslosigkeit (schlecht bezahlte oder bedrohte Arbeitsplätze, Alleinerzieherin etc.) sowie dem Risiko von Gewalt ausgesetzt sind, so ist das derzeitige System strukturell diskriminierend.