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"Unsere Aufgabe ist die Rechtsfindung"

Von Nina Flori

Recht

EuGH-Präsident Koen Lenaerts zur Kritik an weitreichenden Eingriffen des Gerichtshofs in nationales Recht.


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"Wiener Zeitung": Die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) war in der Vergangenheit sehr dynamisch. Sie war stark an den Vertragszielen orientiert, es wurden Lücken geschlossen und das Unionsrecht wurde kontinuierlich weiterentwickelt. Die weite Auslegung wurde oft mit dem "effet utile" begründet, also der praktischen Wirksamkeit. Beobachter kritisierten allerdings, dass sich der EuGH dadurch sehr am Rande der zulässigen Rechtsfortbildung bewegte und in den Bereich der Rechtserzeugung vorstieß, der eigentlich anderen Institutionen vorbehalten ist. Mittlerweile sind diese Stimmen etwas verstummt. Wie beurteilen Sie die Situation?

Koen Lenaerts: Das ist die ewige rechtstheoretische Frage: Wann handelt es sich um Rechtsfortbildung und wann um Rechtserzeugung. Ich sage immer, dass unsere Aufgabe die Rechtsfindung ist. Wir müssen die Rechtsvorschriften der Union nach drei Kriterien auslegen: Gemäß dem Vertragstext, also dem Wortlaut, dem Kontext und den Zielen der Verträge. Schon die Auslegung nach dem Wortlaut stellt eine
große Herausforderung dar. Es gibt 28 Mitgliedstaaten und 24 Amtssprachen, da gibt es oft schon sprachliche Unterschiede in den verschiedenen Sprachfassungen einer selben Bestimmung. Unsere Aufgabe ist es, diese drei Kriterien miteinander zu verbinden und so die richtige Verwendung der Bestimmung herauszufinden, damit sie ihre Absicht, also den Willen des Gesetzgebers entfalten kann. Das ist der "effet utile". Je reifer die Rechtsordnung der Union aber ist, also je politischer sie wird und je effizienter der Gesetzgeber arbeitet, desto zurückhaltender ist der Gerichtshof, weil er dann in seine normale Rolle des Richters zurückgedrängt wird.

Das heißt, in der Vergangenheit waren weitreichendere Eingriffe des EuGH notwendig, da das Unionsrecht noch nicht so weit entwickelt war. Mittlerweile sind die Lücken aber geschlossen und es wurde ein Fundament geschaffen, wodurch der EuGH nun zurückhaltender agieren kann?

Ja, so ist es. Wenn man sich die Entwicklung historisch ansieht, kann man sagen, dass die "effet utile"-Rechtsprechung in den 70ern und Anfang der 80er Jahre an einen Höhepunkt gelangt ist. In dieser Zeit musste jedes Gesetz für die Schaffung des Binnenmarktes noch mit Einstimmigkeit im Rat beschlossen werden, daher kamen Gesetze nur schwer zustande. Es waren schließlich die Unternehmen, die sich auf ihr Recht der Freizügigkeit, des freien Warenverkehrs und der Dienstleistungsfreiheit beriefen, wie sie in den Verträgen stehen und dadurch die Entscheidungen des Gerichtshofs bewirkten. Der Gerichtshof hat gesagt, dass die Mitgliedstaaten als Herren der Verträge ganz klar gewusst haben, was das Ziel, also die Absicht der Vertragsregelungen zur Freizügigkeit und Gleichbehandlung aufgrund der Nationalität war, und die Verträge dadurch konkret ausgelegt. Beginnend mit der Einheitlichen Europäischen Akte, vertieft durch Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon hat das Europäische Parlament aber schließlich mehr Befugnisse erhalten und im Rat wurde die qualifizierte Mehrheit eingeführt. So wurde das ordentliche Gesetzgebungsverfahren entwickelt.

Besonders kontrovers diskutiert wurde 1991 die Francovich-Entscheidung des EuGH, durch die die Haftung der Mitgliedstaaten gegenüber Privatpersonen entwickelt wurde. Hat der Gerichtshof bei dieser Entscheidung über das Ziel hinausgeschossen oder war sie absolut notwendig?

Diese Entscheidung war absolut notwendig. Sie gehört zu den strukturellen Prinzipien, die das Verhältnis zwischen Unionsrecht und dem nationalen Recht bestimmen. 1963 wurde durch die Van-Gend-und-Loos-Entscheidung die Direktwirkung des Unionsrechts etabliert. Ein Jahr später wurde der Vorrang des Unionsrechts festgestellt, wenn das nationale Recht strittig ist. Durch die Francovich-Entscheidung wurden die Mitgliedstaaten verpflichtet, Richtlinien der EU umzusetzen. Wenn sie es nicht tun, verletzt das die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, die sie direkt aus den unionsrechtlichen Bestimmungen ziehen, wodurch sie Schadensersatzansprüche erhalten.

Kritiker meinen, dass der EuGH durch seine weite Auslegung der Verträge eine Mitschuld an der EU-Verdrossenheit vieler Bürgerinnen und Bürger trägt. Manche glauben gar, dass dem EuGH auch eine Verantwortung für den Brexit zuzuschreiben ist.

Den EuGH trifft keine Verantwortung für den Brexit. Jeder weiß, dass das Vereinigte Königreich von Anfang an eine Sonderstellung in der EU eingenommen hat. Sie haben auf Ausnahmeprotokolle für den Euro, für Schengen und selbst nach Lissabon für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bestanden. Was bleibt da noch? Der Binnenmarkt, Agrarpolitik und Transport. Das ist das Europa von vor 1985. Großbritannien hat jede Vertiefung der Verträge abgelehnt.

In der jüngeren Vergangenheit sind die Etablierung der Unionsbürgerschaft und die damit verbundene Rechtsprechung zu Sozialleistungen auf viel Widerstand gestoßen. Vor allem die Tatsache, dass Bürger aus anderen Mitgliedstaaten durch die Interpretation der Unionsbürgerschaft Ansprüche auf Sozialleistungen, wie etwa in Österreich auf die Ausgleichszulage oder in Deutschland auf Erziehungsgeld erhalten haben, wurde stark kritisiert. Hat der EuGH die Angst vieler Unionsbürger vor einem möglichen Sozialtourismus berücksichtigt und ist nun in der Rechtsprechung zurückhaltender geworden?

Nein. Zuerst kommt der politische Beschlussfassungsprozess, danach legt der Gerichtshof die Bestimmungen aus. Das ist 2004 passiert mit der Richtlinie zur Freizügigkeit der Unionsbürger. Sie hat beim Zugang zu Sozialleistungen im Rahmen der Gleichbehandlung von wirtschaftlich nicht tätigen Unionsbürgern gewisse Grenzen gesetzt - es ist nicht so, dass der EuGH unter Druck der Bevölkerung und der Medien zurückgerudert ist. Wir haben die Beschlüsse des Gesetzgebers umgesetzt, wie es in einem demokratischen Rechtsstaat zu erfolgen hat.

Wie schätzen Sie die Rolle des EuGH in der Zukunft ein? Wird er starken Einfluss auf Migrations-Themen haben?

Absolut, das ist schon jetzt der Fall. Wir haben bereits 2016 wichtige Entscheidungen zur Auslegung der Richtlinien über das Asylverfahren, über die Möglichkeit, um Asyl zu ersuchen und die Möglichkeit, jemanden präventiv in Haft zu nehmen, wenn er im Verdacht terroristischer Aktivitäten steht, getroffen. Das sind wichtige Fragen, weil es sich dabei um die einheitliche Gesetzgebung der Union handelt, die wir auch im Lichte der Grundrechte-Charta auslegen. So wird sichergestellt, dass Europa den Betroffenen grundsätzlich in allen Mitgliedstaaten den selben Grundrechtsschutz gewährleistet. In diesem Zusammenhang werden wir mit weiteren Vorlagen rechnen müssen.

Mit "effet utile" wird das Auslegungsprinzip des EuGH für europäisches Gemeinschaftsrecht bezeichnet, das jener Auslegung den Vorzug einräumt, die die Verwirklichung der Vertragsziele am meisten fördert. Um den europäischen Verträgen die optimale Wirkungskraft zu verleihen, sind die bestehenden Gemeinschaftskompetenzen größtmöglich auszuschöpfen.

Zur Person
Koen Lenaerts ist seit Oktober 2015 Präsident des EuGH. Er wurde 1954 in der belgischen Stadt Mortsel in der Region Flandern geboren, studierte Rechtswissenschaften an den Universitäten Namur und Löwen und absolvierte einen Master in Public Administration in Harvard. Parallel zu seiner Unikarriere begann er 1984 als Rechtsreferent am EuGH. Von 1989 bis 2003 war er Richter am Europäischen Gericht erster Instanz. 2003 wurde er zum Richter am EuGH gewählt, dessen Vizepräsident er von 2012 bis 2015 war.