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"Unsere Bilanz könnte besser sein"

Von Michael Schmölzer

Politik

Zehn Jahre nach der EU-Osterweiterung: Ungarns Europaministerin Enikö Györi zieht ein kritisches Resümee.


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"Wirtschaftspolitik wird nicht geändert" - Ungarns Europaministerin Enikö Györi.
© Jenis

"Wiener Zeitung": Vor zehn Jahren wurde die Europäische Union um zehn Mitglieder erweitert. Welche Bilanz zieht Ungarn?Enikö Györi: Ich würde sagen, dieser "Big Bang" vor zehn Jahren hat sich für die gesamte EU ausgezahlt. Für die 15 alten und die zehn neuen Mitglieder gleichermaßen. Eine aktuelle Studie der "Erste Group Research" zeigt, wie viel alleine die österreichische Wirtschaft durch die Erweiterung gewonnen hat. Es hat auch für unser Land viel gebracht. Unsere Bilanz ist gut, könnte aber besser sein.

In welcher Hinsicht?

Wenn ich den Vergleich mit den anderen Visegrad-Ländern ziehe - Slowakei, Tschechien, Polen -, dann fällt auf, dass andere Länder mit der gleichen Tradition wie Ungarn mehr Fortschritte zu verzeichnen haben.

Woran könnte das liegen?

In den ersten sechs Jahren der EU-Mitgliedschaft fehlte es in Ungarn an einer vernünftigen internen ökonomischen Politik. Wenn man für eine hohe Staatsverschuldung sorgt, dann ist es nicht möglich, einen so großen Fortschritt wie die Nachbarländer zu machen.

Also ist die Regierung vor Viktor Orbán an der mäßigen Performance schuld?

2002 waren wir dem Ziel, der Eurozone beizutreten, näher, als das 2010 der Fall war. Wir haben das Defizit fast verdoppelt. Schon zwei Monate nach unserem EU-Beitritt waren wir von einem Defizitverfahren betroffen. Erst im vergangenen Jahr haben wir es geschafft, da herauszukommen. In Bezug auf das Pro-Kopf-Einkommen waren wir zum Zeitpunkt des Beitritts im Kreis der Visegrad-Staaten an zweiter Stelle hinter der Tschechischen Republik. Dann stagnierten wir, dann hat uns die internationale Wirtschaftskrise voll getroffen. Ab 2010 haben wir den Anschluss wieder gefunden. Aber die Slowaken, die hinter uns gestartet waren, haben uns überholt. Und die Polen, die ursprünglich das geringste Pro-Kopf-Einkommen hatten, haben mit uns gleichgezogen.

Also handelt es sich hier um eine Art Wettrennen?

Es ist kein Wettrennen, denn die Kooperation der mittel- und osteuropäischen Länder ist besser denn je. Aber um objektiv zu sein, muss man diese Zahlenvergleiche heranziehen. Und die zeigen, dass andere Länder klüger waren als die damalige ungarische Regierung. Wenn eine Regierung in guten Zeiten mehr ausgibt, als Reserven da sind, dann sind keine Reserven in der Tasche.

Wie sieht es eigentlich mit einer neuen Erweiterungsrunde aus?
Serbien zum Beispiel. Es gibt mächtige Stimmen in der EU, die einen Erweiterungs-Stopp fordern.

Ich bin überzeugt, dass eine Erweiterung der EU notwendig ist. Wir haben uns während unserer EU-Präsidentschaft 2011 für die Aufnahme von Kroatien starkgemacht. Kroatiens Platz ist in der EU, das war unser Standpunkt. Wir haben harte Überzeugungsarbeit geleistet. Aber wir sollten an diesem Punkt nicht haltmachen. Der Balkan gehört zu Europa, wir müssen den Erweiterungsprozess am Leben halten. Das ist eine gemeinsame Mission für Ungarn und Österreich. Das ist auch wirtschaftlich wichtig. Und die Lehre aus der Ukraine-Krise ist, dass wir meistens erst handeln, wenn es spät ist.

Aber es gab doch immer bilaterale Probleme zwischen Serbien und Ungarn, die ungarische Minderheit in Serbien betreffend. Ist das jetzt ausgeräumt?

Wir haben eine schwierige Vergangenheit hinter uns. Im letzten Sommer haben die Präsidenten beider Länder einen historischen Besuch in die Dörfer unternommen, in denen viele Ungarn im Zweiten Weltkrieg getötet worden waren. Es war eine historische Versöhnungsmaßnahme. Aber da geht es um Menschenrechte, die Teil des europäischen Wertesystems sind. Wir wollen Serbien bei den schwierigen Verhandlungen mit der EU helfen und bei der Implementierung der EU-Gesetzgebung. Aber es gibt natürlich keinen Freifahrtschein für die Kandidaten.

Sollte es auch eine EU-Perspektive für die Ukraine geben?

Das Assoziierungsabkommen ist noch nicht die Endstation. Wir müssen der Ukraine eine europäische Perspektive geben und nicht die Türe zuschlagen. Die EU ist für viele Ukrainer eine attraktive Option. Es ist eine moralische Verpflichtung der EU, der Ukraine zu helfen. Aber es ist viel zu tun in der Ukraine. Ein funktionierender Staat muss aufgebaut werden. Wir müssen Hilfe leisten.

Wie sieht es mit Gaslieferungen an die Ukraine aus?

Das ist ein absolutes Muss. Unsere Pipelines sind schon in der Lage, Gas in beide Richtungen zu transportieren. Der "reverse flow" ist garantiert. Wir brauchen Alternativen in Europa, was Energiepolitik angeht.

Sind Sanktionen gegen Russland der richtige Weg?

Die Annexion der Krim ist völkerrechtswidrig, das ist nicht akzeptabel. Wir müssen eine friedliche Lösung finden. Es ist nötig, das die EU mit einer Stimme spricht.

Aber welche Sanktionen sollte es gegen Russland geben?

Wir waren bei allen Maßnahmen, die bis jetzt getroffen wurden, mit an Bord. Aber natürlich muss man sehr vorsichtig sein. Wenn die Lage eskaliert - und es gibt deutliche Anzeichen dafür -, dann gibt es verschiedene wirtschaftliche Sanktionen, die verhängt werden könnten. Aber es ist klar, dass Länder wie Ungarn durch ihre geografische Lage von den möglichen Konsequenzen der Sanktionen stärker betroffen sind als andere Länder. Es muss Solidarität geben und Lastenverteilung, wenn es um die Sanktionen geht.

Russland hält jetzt wieder Manöver ab. Soll die Nato militärisch in irgendeiner Art und Weise reagieren?

"Sollen die Beziehungen wirklich von einigen Landbesitzern abhängig gemacht werden?" - Györi über den Bodenstreit mit Österreich.

Die Ukraine ist kein Nato-Mitglied, der Artikel 5 des Nato-Vertrags, also die Hilfeleistung, tritt nicht in Kraft. Es gibt keine Bestrebungen in Europa, Truppen in den Osten der Ukraine zu schicken. Aber wir müssen am Verhandlungstisch stark und vereint sein.

Am 1. Mai soll das neue Bodengesetz in Ungarn in Kraft treten, wegen dem es Streit mit Österreich gibt. Glauben Sie, dass das Gesetz wieder von der EU aufgehoben wird?

Nicht wieder, warum wieder?

Weil ungarische Gesetze in letzter Zeit ziemlich oft von der EU beanstandet werden.

Nicht öfter, als das bei anderen Ländern der Fall ist. Das Gesetz wird im 1. Mai in Kraft treten. Es gibt Konsultationen zwischen der EU-Kommission und Ungarn und Österreich, die EU-Kommission untersucht nicht nur das neue
ungarische Gesetz. Wir sind der Ansicht, dass unser Gesetz mit dem EU-Recht kompatibel ist. Landbesitz ist überall ein extrem sensitives Thema, es ist in Österreich mindestens so strikt geregelt wie in unserem Fall. Wir wollen Restriktionen einführen, die es in anderen EU-Ländern bereits gibt. Es geht nicht darum, Ausländer zu diskriminieren, davon ist mit keinem Wort die Rede in diesem Gesetz. Wir wollen nicht, dass juristische Personen Land kaufen; und wir wollen nicht, dass Land für Spekulationszwecke gekauft wird. Wir wünschen, dass Familien und Menschen, die von diesem Land leben, das Recht haben, das Land zu kaufen. Deswegen verlangen wir Zertifikate, ob das agrarische Fachwissen vorhanden ist. Das ist in diesem neuen Gesetz verankert. In dem letzten Gesetz waren Lücken. Das hat diese "Taschenverträge" ermöglicht. Und: Wie viele Österreicher sind von dem neuen Gesetz betroffen?

200 ungefähr.

Die korrekte Zahl lautet: zwischen sieben und 15. Sollen die Beziehungen von zwei Staaten wirklich von sieben bis 15 Landbesitzern abhängen?

Gibt es auf ungarischer Seite Raum für mögliche Kompromisse in dieser Frage?

Die Kommission ist die Hüterin der Verträge, das haben wir nie in Frage gestellt. Wenn eine nationale Rechtsnorm dem EU-Recht nicht entspricht, leitet sie ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Dabei werden wir alle gestellten Fragen beantworten. Dann muss das aufgezeigt werden. Wenn das Gesetz aus EU-Sicht nicht akzeptabel ist, dann wird es ein Verfahren geben und wir werden darauf antworten. Wenn kein Kompromiss zustande kommt, dann könnte diese Angelegenheit vor den EuGH kommen. Und seine Entscheidung muss dann umgesetzt werden.

Es gibt kritische Stimmen, die Ungarn als Problemfall in der EU betrachten. Was entgegnen Sie diesen Stimmen?

Es stimmt, dass in den letzten Jahren viel gesagt und viel geschrieben worden ist. Wir haben zuletzt viele Änderungen vorgenommen, was immer ein größeres Interesse hervorruft. Wenn man auf die Fakten schaut, dann ist die Zahl der Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn geringer als im EU-Durchschnitt.

Aber im Fall Ungarn handelt es sich um Verfahren in ziemlich zentralen Bereichen . . .

. . .was diese hochsensiblen Fälle betrifft, sind nur zwei vor dem EuGH gelandet. Als es um unsere neue Verfassung ging, hat die EU-Kommission der ungarischen Regierung Fragen gestellt, die wir beantwortet haben. Dann kam es zu konstruktiven Gesprächen mit der EU-Kommission und wir haben die Angelegenheiten gelöst. Wir waren bereit, nach diesem Dialog auch unsere Verfassung zu ändern.

Aber ich würde sagen, es sind disproportional viele kritische Stimmen in der EU-Kommission, im Parlament und bei Politikern verschiedenster Länder, was den Weg betrifft, den Ungarn eingeschlagen hat. Es ist von Nationalismus die Rede. Welche Erklärung gibt es dafür in Ihren Augen?

Ich habe schon gesagt: Wir haben drastische Maßnahmen in kurzer Zeit umgesetzt.

Aber das ist etwa auch in der Slowakei der Fall.

Das stimmt nicht. Wir haben mehr Gesetze geändert, wir haben eine neue Verfassung, die unser Wertesystem klar spiegelt, die nicht von allen gemocht wird, auch wenn nichts Anstößiges daran ist und sie mit der EU-Grundrechtecharta übereinstimmt. Es hat sicher Fehler auf unserer Seite in den letzten vier Jahren gegeben, aber wir waren zum Dialog bereit und bereit Korrekturen vorzunehmen.

Welche Politik wird die Regierung Orbán künftig machen?

Wir werden unsere Wirtschaftspolitik nicht ändern, da die Makro-Daten eindeutig zeigen, dass diese erfolgreich ist. Wir werden Euro-Realisten bleiben. Ungarns Platz ist ganz klar in der EU. Wir brauchen aber nicht überall vertiefte Kooperation - was die Eurozone betrifft, freilich schon, dazu sind wir bereit. Wir glauben nicht, wie Österreich, dass die EU ein föderaler Staat - wie Österreich einer ist - werden soll. Wir brauchen Europa auch nicht in jeder Facette unseres Lebens. Wir brauchen eine starke Kooperation von starken Nationen.