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"Unsere dunkelste Stunde"

Von WZ-Korrespondentin Agnes Tandler

Politik

Pakistan trauert, während Eltern und Angehörige die 144 Opfer des Schulmassakers von Peshawar zu Grabe tragen.


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Islamabad. Eigentlich wäre der 15-jährige Dawood Ibrahim tot, wenn er am Dienstagmorgen nicht verschlafen hätte. Dawood ist der einzige Schüler aus der 9.Klasse der "Army Public School" in Peshawar, der das blutige Schulmassaker der Taliban überlebte. Ein kaputter Wecker rettete ihm das Leben. "Es war Schicksal", sagt sein Bruder Sufyan der Zeitung "Express Tribune". "Wir waren am Abend erst spät von einer Hochzeit zurückgekommen. Dawood hat verschlafen und die Schule verpasst". Sechs seiner besten Freunde hat Dawood an einem Tag begraben müssen. Der Teenager ist traumatisiert. "Er spricht mit niemandem, er spricht gar nicht", sagt sein Bruder.

Ganz Pakistan steht unter Schock, nachdem am Dienstag pakistanische Taliban-Kämpfer eine von der Armee geführte Schule in der Millionenstadt Peshawar angegriffen und 144 Menschen – davon mindestens 133 Schulkinder – kaltblütig ermordeten. Es ist das schlimmste Attentat in der Geschichte des Landes. Überlebende berichteten von den Momenten des Grauens, als die schwer bewaffneten Männer von Raum zu Raum gingen und die Schüler und Schülerinnen durch gezielte Kopfschüsse töteten. "Wer um Hilfe schrie, wurde ein zweites Mal beschossen", berichtet Zulfikar Ahmed , ein Lehrer, der das Massaker überlebte. Pakistans Spezialeinheiten brauchten über acht Stunden, um die Schule unter ihre Kontrolle zu bekommen und die Terroristen zu töten.

In allen Teilen des Landes gedachte man am Mittwoch der Toten. In den großen Moscheen Pakistans wurden Totengebete für die Opfer abgehalten. "Dies ist unsere dunkelste Stunde", titelte die Zeitung "Pakistan Today". Die Stadt Peshawar verwandelte sich in einen einzigen Beerdigungszug. Geschäfte, Büros und Schulen blieben geschlossen, kaum ein Stadtteil hatte keine toten Kinder zu beklagen. In Gulbahar, einem kleinen Viertel unweit vom Hauptbahnhof, wurden 19 Schüler und eine Lehrerin zu Grabe getragen. Sogar in Indien, dem verfeindeten Nachbarn Pakistans, gedachte man mit einer Schweigeminute in Schulen und im Parlament den über 100 getöteten Schülern und Lehrern jenseits der Grenze.

Anschlag "widerspricht den Grundlagen des Islams"

Der grausame Anschlag auf Kindern wurde selbst von anderen radikal-islamischen Terrorgruppen scharf verurteilt: Der Sprecher der afghanischen Taliban, Zabihullah Mujahid, erklärte in einem Statement: "Das absichtliche Töten unschuldiger Menschen, Kinder und Frauen widerspricht den Grundlagen des Islams." Und der Anführer der radikalen Jammat-ud-Dawa, Hafiz Saeed erklärte: "Ein Massaker an unschuldigen Kindern ist Terrorismus." Der militante Arm von Jamat-ud-Dawa gilt als Drahtzieher des Terroranschlags auf die indische Finanzmetropole 2008, bei dem über 140 Menschen starben.

Pakistans Militär hatte schon am Dienstag mit Luftanschlägen gegen Verstecke der pakistanischen Taliban im Nordwesten des Landes reagiert. In einem bisher einmaligen Akt reiste am Mittwoch Pakistans Armeechef Raheel Sharif nach Afghanistan, offenbar um die Auslieferung des Gründers und spirituellen Führers der pakistanischen Taliban, Mullah Fazalullah, zu fordern, der in Afghanistan leben soll, und gleichzeitig auf eine gemeinsame Militäroperation von Pakistan und Afghanistan gegen die Organisation zu dringen. Pakistans Premierminister Nawaz Sharif erklärte zudem ein seit 2008 bestehendes Moratorium zur Todesstrafe für offiziell beendet, sodass wegen Terrortaten Verurteilten nun wieder die Hinrichtung am Galgen droht.

Doch die pakistanischen Taliban, Tehrik-i-Taliban Pakistan (TPP), die sich zu dem Schulmassaker bekannt haben, sind keine homogene Organisation, sondern eher ein loser Dachverband einzelner Terrororganisationen, die, obwohl allesamt radikal und islamistisch, auch unterschiedliche Ziele verfolgen. Anders als die afghanischen Taliban haben sie keine zentrale Kommandostruktur. In letzter Zeit haben sich zahlreiche Gruppen von der TTP abgespalten, um eine extremistischere Agenda zu verfolgen, die sich mehr an die Ideologie des "Islamischen Staates" in Syrien und Irak anlehnt. Beobachter spekulieren, dass der Streit innerhalb der TTP die Teile der Organisation noch weiter radikalisiert hat. Erst vor wenigen Wochen war der bisherige TTP-Sprecher zum "Islamischen Staat" übergelaufen.

Pakistans Militär pflegt zu den islamistischen Terrorgruppen im Lande ein ambivalentes Verhältnis. Indien wirft seinem Erzrivalen vor, gezielt Terrorgruppen zu unterstützen, um sie als Vehikel für Attentate in Indien zu benutzen. Auch Afghanistan beschuldigt den pakistanischen Militärgeheimdienst, die afghanischen Taliban zu unterstützen, deren Führer im pakistanischen Quetta leben soll.

In der Tat ist Pakistans Armee seit Jahren in einem Zyklus von Militäroperationen und Friedensgesprächen mit den islamistischen Aufständischen gefangen. Trotz eines über zehn Jahre dauernden Krieg gegen islamistische Radikale, sind keine Erfolge zu verzeichnen. Zudem herrscht in der Bevölkerung eine stillschweigende Sympathie für die Taliban und andere Gruppen, weil sich ihr Kampf auch gegen die USA richtet, deren Drohnenprogramm im Nordwesten Pakistans als Verletzung der Souveränität des Landes angesehen wird. Luftschläge und Militärangriffe töten auch viele Zivilisten, was den Unmut im Land weiter schürt. Beobachter hoffen nun, dass das Schulmassaker von Peshawar hier ein Umdenken bringt. Es gebe keine Unterscheidung mehr "zwischen guten und bösen Taliban", kündigte Regierungschef Sharif an. Doch wieweit er damit Pakistans mächtiges Militär überzeugen kann, bleibt abzuwarten.