Zuwanderung ist ein Prozess, der weder durch die Politik noch durch massive andere Ereignisse kurzfristig beeinflussbar ist.
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Vorige Woche gab es eine paradoxe Meldung über die Bevölkerungsentwicklung Österreichs im Jahr 2020. Obwohl als Folge der Pandemie mehr Menschen gestorben sind als normal, hat die Zahl der gemeldeten Einwohner um 31.600 Personen zugenommen - nur um etwa 10.000 weniger als in den Jahren vorher. Die Einwohnerzahl von Wien stieg sogar um fast 10.000 Personen. Daraus zeigt sich zum einen, dass Zuwanderung ein Prozess ist, der weder durch die Politik noch durch massive andere Ereignisse kurzfristig beeinflussbar ist. Viele wichtige Branchen, etwa die Industrie und das Gesundheitswesen, wurden durch die Pandemie wenig beeinträchtigt oder haben sogar mehr Arbeitskräfte benötigt.
Was die Zunahme der Einwohnerzahl aber noch bemerkenswerter macht, ist die Tatsache, dass die Zahl der österreichischen Staatsbürger um 13.000 Personen gesunken ist. Wie ist das möglich, sind doch gerade die meisten Gruppen von Zuwanderern durch höhere Geburtenraten charakterisiert als die Einheimischen? Das Rätsel löst sich, wenn man sieht, dass die Zahl der Einbürgerungen abgenommen hat. Seit 2015 pendelt diese zwischen 9.000 und 10.000 Personen pro Jahr; 2020 waren es nur noch 8.796. Das heißt, dass von 100 in Österreich ansässigen Nicht-Österreichern nur 0,7 die Staatsbürgerschaft erwerben - ein Wert, der europaweit an unterster Stelle steht (gemeinsam mit Ländern wie Tschechien und Slowakei). Seit 2003 - als es mit 45.000 einen Spitzenwert an Einbürgerungen gab - hat dieser Wert kontinuierlich abgenommen.
Kaum Beziehungenzum Herkunftsland
Die Zunahme der Ausländer ist nicht nur auf Zuwanderung zurückzuführen, sondern auch darauf, dass in Österreich im Vorjahr 17.199 Kinder als Ausländer auf die Welt gekommen sind, hier als solche aufwachsen, zur Schule gehen und arbeiten werden. Es ergibt sich damit die absurde Situation, dass der Großteil dieser Kinder und Jugendlichen kaum nennenswerte Beziehungen zum Herkunftsland ihrer Eltern aufweisen, sich dagegen voll als Österreicher fühlen wird, aber kein Staatsbürger dieses Landes ist.
Diese Situation ist zurückzuführen auf die in den vergangenen Jahren verschärften Bedingungen für den Erwerb der Staatsbürgerschaft. Diese wird automatisch nur nach dem Prinzip des "ius sanguinis" verliehen, also aufgrund der Abstammung von österreichischen Eltern. Für alle anderen ist sie an sehr strenge Bedingungen gebunden, wie Mindestaufenthaltsdauer von zehn Jahren, Nachweis einer guten Beherrschung der deutschen Sprache und ein in vielen einfachen Erwerbstätigkeiten kaum erzielbares Einkommen.
Man kann die Situation nicht anders sehen als jene der Gastarbeiter, die in den 1960ern und 1970ern nach Österreich kamen. Von ihnen erwartete man, dass sie nach dem Wegfallen des Bedarfs wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden. Inzwischen hat man gesehen: Es wurden Arbeitskräfte gerufen, aber Menschen (und ihre Familien) sind gekommen. Nicht wenige der heutigen Ausländer in Österreich stehen noch schlechter da: Sie können kaum zurückkehren, da in ihren Herkunftsländern hohe Arbeitslosigkeit herrscht, und - wie die jungen Menschen - sie sich dort als völlig Fremde fühlen würden.
Es gibt in diesem Zusammenhang noch ein weiteres Paradox: Rund 600.000 Ausländer wohnen schon zehn Jahre und länger in Österreich. Eine detaillierte Analyse von Stephan Marik-Lebeck von der Statistik Austria, veröffentlicht in einem neuen Band zur Doppelstaatsbürgerschaft (Rainer Bauböck und Max Haller: Dual Citizenship, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2021) zeigt, dass unter Berücksichtigung zusätzlich relevanter Kriterien rund 375.000 Personen wahrscheinlich die Voraussetzungen für den Erwerb der Staatsbürgerschaft erfüllen. Warum suchen sie nicht dafür an?
Wenige zusätzliche Rechte durch Staatsbürgerschaft
In dem genannten Band wurden auch die Gründe dafür untersucht. Für Zuwanderer aus EU-Ländern - insbesondere die größte Gruppe darunter, die deutschen Staatsbürger - bringt die österreichische Staatsbürgerschaft wenige zusätzliche Rechte (abgesehen vom Wahlrecht). Außerdem ist die Staatsbürgerschaft eines westlichen Landes mehr "wert" als etwa jene von Rumänien, gar nicht zu reden von Afghanistan oder Syrien. Daher ist unter Zuwanderern aus westlichen EU-Ländern das Interesse am Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft gering. In einem Folgeprojekt zur obigen Publikation ist derzeit eine spezielle Studie in Wien in Auswertung, die sich mit den Gründen des geringen Andrangs zum Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft befasst.
Zwei weitere Gründe sind schon bekannt: Der eine sind die genannten hohen Hürden und Kosten für ihre Erlangung, der andere die Bindung an das Herkunftsland. Die Notwendigkeit, einen höheren Anteil der schon lange in Österreich lebenden Ausländer zum Ansuchen um die Staatsbürgerschaft zu motivieren, ist inzwischen auch der Politik, insbesondere in Wien, bewusst geworden. Was man dafür tun könnte, ist recht klar. Eine Möglichkeit ist die Erleichterung der Doppelstaatsbürgerschaft. Damit könnte man vermutlich auch tausende deutsche Staatsbürger erreichen, die durchaus Interesse an der österreichischen Politik haben.
Ein Faktor, der die Integration im Aufnahmeland fördert
Einen solchen Schritt würde auch die Mehrheit der nahezu halben Million Österreicher, die derzeit im Ausland leben, befürworten. Dies zeigte sich in einer eigenen Umfrage im Rahmen der genannten Publikation, die der Weltbund der Auslandsösterreicher durchführte. Aber auch Ausländer aus Drittstaaten, die noch immer eine Bindung an ihre Herkunftsland empfinden, könnte man damit vermutlich motivieren. Eine Doppelidentifikation mit Herkunfts- und Ankunftsland ist für alle Migranten weltweit normal (den Autor dieser Zeilen eingeschlossen) und stellt kein Hindernis für eine volle Integration ins Aufnahmeland dar.
Die Verleihung der Staatsbürgerschaft ist selbst ein Faktor, der Integration fördert, wie in dem Buch und in anderen Studien gezeigt wird. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass dies für die Zuwanderer aus der Türkei weniger zutreffen sollte (wie es wohl viele annehmen, ohne es auszusprechen). Eine spezielle Umfrage unter Zuwanderern aus Ex-Jugoslawien und der Türkei zeigte, dass auch Letztere sich mehrheitlich sowohl als Österreicher wie als Türken empfinden (Wolfgang Aschauer und andere: "Die Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten in Österreich", Wiesbaden 2019).
Die große Sozialphilosophin Hannah Arendt meinte in ihrem Aufsatz "Es gibt nur ein einziges Menschenrecht" mit dem Titel die Staatsbürgerschaft. Staatenlose entbehren jeder Art von Rechten. Der Großteil derer, die in Österreich leben, ohne die Staatsbürgerschaft dieses Landes zu besitzen, hat jene eines anderen Landes. Aber erst als Staatsbürger Österreichs haben sie vollen Zugang zu allen Lebenschancen, die dieses wohlhabende Land bieten kann. Durch ihre in vielen Branchen inzwischen unentbehrliche Arbeit tragen sie auch wesentlich zu Österreichs Wohlstand bei. Aber auch die demokratische Qualität dieses Landes, die Chance zur Artikulation aller Interessen im politischen Prozess wird signifikant beeinträchtigt, wenn 1,5 Millionen der im Land lebenden 9 Millionen Einwohner dabei nicht wirklich partizipieren können. Für die Politik sollte es ein zentrales Anliegen werden, dass ein Großteil dieser Menschen nicht mehr nur als "Gäste" in unserem Land gesehen werden.