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Unsere verlogene Doppelmoral

Von Christian Ortner

Gastkommentare
Christian Ortner.

Die Europäer verteidigen das Völkerrecht heroisch - außer natürlich, wenn das gerade nicht opportun ist.


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Es waren martialische Bilder, die in den vergangenen Tagen um die Welt gingen: Sie zeigten hochmoderne und überaus gefechtsstarke Kampfpanzer vom Typ Leopard aus deutscher Fertigung, die aus der Türkei kommend auf syrisches Hoheitsgebiet vordrangen. Sie sind Teil der "Operation Olivenzweig", die entgegen ihrem zynischen Namen nichts mit Frieden zu tun hat, sondern die gerade ablaufende militärische Besetzung von nordsyrischem Territorium mit kurdischer Bevölkerung durch die Türkei meint.

Weniger martialisch als beschämend und peinlich war die Reaktion der EU und ihrer Mitgliedstaaten auf den eklatanten Bruch des Völkerrechtes durch das Erdogan-Regime. "Ich bin extrem beunruhigt", meinte Federica Mogherini, die Außenbeauftragte der EU. Sie kündigte an, das Thema auch in einem Gespräch mit dem türkischen Europaminister Ömer Celik anzusprechen, wenn dieser in den nächsten Tagen nach Brüssel komme, und ersuchte die türkische Regierung, sich "militärisch zurückzuhalten". Das wird die Führung in Ankara ganz sicher enorm beeindruckt haben. Ganz sicher.

Nun kann man der EU ihre außenpolitische Erektionsschwäche redlicherweise nicht vorwerfen: Diese ist von den Mitgliedstaaten so gewollt und verursacht, die diese Kompetenz grosso modo nicht abgeben wollen. Doch eben diese EU-Staaten müssen sich nun ein gehöriges Maß an Doppelmoral vorhalten lassen. Denn die Türkei macht in Syrien jetzt nichts anderes als die Russen auf der Krim und in der Ostukraine: Sie besetzen völkerrechtswidrig Teile des Territoriums eines Nachbarstaats militärisch.

Während aber die Russen - mit guten Gründen - dafür erhebliche Sanktionen der Europäer ausgefasst haben, fährt die EU gegenüber der Türkei das wahrhaft furchterregende Sturmgeschütz der Marke "Frau Mogherini ist sehr beunruhigt" auf. Und sonst genau nichts. Und Luxemburgs sozialdemokratischer Außenminister Jean Asselborn drohte gar: "Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sind praktisch eingefroren. Aber die Europäer sollten sie nicht endgültig abbrechen."

Dieses jämmerliche Herumeiern als Doppelmoral zu bezeichnen, ist noch stark untertrieben. Es delegitimiert auch den anmaßenden Anspruch der Europäer, Gralshüter des Völkerrechts gegenüber den Autokraten dieser Welt zu sein. Wer das Völkerrecht zu einer Tochter der eigenen politischen Opportunitäten macht, kann es gleich ganz entsorgen.

Und Opportunitäten, aus denen jene Doppelmoral resultiert, gibt es mehr als ausreichend. Noch immer kann Recep Tayyip Erdogan die EU, vor allem aber die deutsche Kanzlerin erpressen, weil diese ihn als Türsteher an der EU-Außengrenze verpflichtet hat, der Millionen von Migranten daran hindert, sich auf den Weg gen Europa zu machen, und damit eine Wiederholung der Flüchtlingskrise 2015/16 verhindert.

Dazu kommt, dass die Türkei natürlich ein wichtiger Markt für europäische Unternehmen und deren Produkte ist, nicht nur die deutschen Leopard-Panzer.

Man kann das ja auch ganz entspannt-pragmatisch als Realpolitik bezeichnen. Es wird dann halt nur ziemlich schwierig, die Sanktionen gegen Russland mit völkerrechtlichen Argumenten aufrechtzuerhalten.