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Unsere "verlogene" Gesellschaft

Von Peter Stiegnitz

Gastkommentare

"Die da oben lügen alle . . ." Dieses Sätzchen hört jeder Lügenforscher von seinen Probanden, wobei mit "die da oben" immer die Politiker apostrophiert werden.


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Die meisten Berufswerte-Erhebungen zeigen, dass die Politiker, allerdings gemeinsam mit ihren Feindesfreunden, den Journalisten, das absolute Schlusslicht auf der Liste der "geachteten Berufe" bilden. Wie ungerecht dieses Vorurteil ist, wissen nicht nur die Betroffenen, sondern alle Beobachter (welt)politischer Ereignisse.

Die Mentiologie, die Lehre von der Lüge, definiert ihr Forschungsgebiet mit der "bewussten Abwendung von der Wirklichkeit". Ist aber bereits das Verschweigen der Realität eine Lüge? Im politisch-gesellschaftlichen Leben steht dieses Nichtmitteilen auf der Tagesordnung aller Parteivorstands- und Ministerratssitzungen, es ist das wichtigste Werkzeug der Diplomaten und umzingelt vor allem Wirtschaft und Werbung; man nennt diese Lüge "Diskretion". So hielten sich Premier David Cameron und seine Tories auffallend vornehm zurück, als Medien-Mogul Rupert Murdoch sein Revolverblatt "News of the World" einem fünf Jahre (!) zurückliegenden Abhörskandal opferte. Während Labour-Chef Ed Miliband und sogar die mitregierenden Liberaldemokraten Cameron wegen seines "feigen Schweigens" attackierten, wusste Murdoch trotz "News"-Schließung nicht, ob er den TV-Sender BSkyB übernehmen kann.

Was in England möglich ist, war in den USA immer schon gang und gäbe - nicht erst seit Bill Clintons "Lewinsky-Affäre". Selbst hinter dem Fall Dominique Strauss-Kahn versteckt sich mehr als eine Ja-oder-Nein-Vergewaltigung. Kanzler Helmut Kohls Versprechen nach der deutschen Wiedervereinigung, es gebe "keine neuen Steuern", gehört genauso in diese Kategorie der politischen Unwahrheiten wie die Brüsseler Ammenmärchen vom "pleitenlosen Griechenland". Auch Wolfgang Schüssel fiel es nach der verlorenen Wahl nicht leicht, seine Erklärung, "als Dritte" am Ballhausplatz nicht einzuziehen, aufrechtzuerhalten, ebenso hatte Alfred Gusenbauer seine liebe Not mit seiner Ja/Nein-Studiengebühren-Politik.

Bedeutend mehr als der verlogenste Politiker meidet die Werbung die Realität. Professionelle Werbesendungen und geschickt platzierte "Sonderangebote" verführen uns alle nach Strich und Faden. Warum? Wir wollen alle, in der Arbeits- und in der Freizeit, schlicht und einfach belogen werden.

In der Forschung unterscheiden wir drei Typen mit ihren jeweils charakteristischen Lügen-Merkmalen:

Der "Alpha-"Typ" ist innovativ, ein Funktionalist und Workaholiker und hält "Stillstand" für den Tod.

Der "Gamma-Typ" ist ein Sicherheitsfanatiker, der nur Neuerungen ohne Risiko anstrebt; der Glaube daran ist seine Selbstlüge.

Der "Omega-Typ" ist ein verantwortungsloser Massenmensch, ein Feind aller Innovationen, der sich eine fremdgesteuerte "Sicherheit" erlügt.

Verachten wir trotz allem unsere "verlogene" Gesellschaft nicht, da jede Lüge der Politik, der Wirtschaft, der geistigen Modewelt unvergleichlich besser ist als die primitiv gestrickten, für alle Gläubigen verständlichen "einzigen Wahrheiten" der Religionsfanatiker der ganzen Welt.

Peter Stiegnitz ist Soziologe und Begründer der Mentiologie.

Die Tribüne gibt ausschließlich die Meinung des betreffenden Autors wieder und muss sich nicht mit jener der Redaktion der "Wiener Zeitung" decken.